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«He pushed and pushed and pushed and that’s why in the end it just exploded», erzählt ein Mitarbeiter des Royal Ballet in London in Steven Cantors Dokumentarfilm. Die Rede ist von Sergei Polunin, dem «James Dean der Ballettwelt» – und seinem Ringen mit sich selbst.

Text: Victoria Gehriger / 08. Dez. 2016

«He pushed and pushed and pushed and that’s why in the end it just exploded», erzählt Salvatore Scalzo, ein Mitarbeiter des Royal Ballet in London. Die Rede ist von Sergei Polunin, dem «James Dean der Ballettwelt» – und seinem Ringen mit sich selbst.

Sergei gilt als einer der verheissungsvollsten Balletttänzer, doch der Erfolg hat auch seine Schattenseiten. Nichts wünschte sich der Vierzehnjährige sehnlicher, als seine getrennt lebenden Eltern wieder vereint zu sehen. Der Vater lebte und arbeitete in Portugal, die Grossmutter tat dasselbe in Griechenland. Beide verliessen die Familie, um genug Geld zu verdienen, damit Sergeis Tanzausbildung bezahlt werden konnte. Kurze Interviewszenen gewähren uns einen intimen Blick hinter die Kulissen und legen offen, dass die erbrachten Opfer gleichzeitig auch die Familie auseinanderrissen. Sergei, seine Angehörigen und seine Freunde, alle erzählen dieselbe Story.

Polunin im Alter von acht Jahren tanzt freudig quer durch den Raum, ohne die geringste Sorge. Seine grösste Leidenschaft ist das Tanzen und sein Ziel, die Menschen damit glücklich zu machen. Von den glänzenden Augen wird direkt zu einer drei Jahre älteren Aufnahme geschnitten. Sie zeigt ein müdes und angestrengtes Gesicht. Steven Cantor spielt mit dem Archivmaterial, das seine Mutter damals in den Trainingsstunden aufgenommen hatte. Die zwei jungen Gesichter von Polunin liegen nur drei Jahre auseinander, trotzdem kontrastieren sie sich wie Komplementärfarben. Eine Ernsthaftigkeit zieht sich über Sergeis Gesicht, sein bestimmter und harter Blick passt so gar nicht zu einem Elfjährigen. Er leckt sich angestrengt die Lippen und führt dann die Bewegungen mit einer solchen Eleganz aus, dass man als Zuschauer die weiteren Darbietungen seiner Tanzkunst kaum abwarten kann. Es scheint so, als würde der Junge vor unseren Augen aufwachsen und auf dem harten Boden der Tatsachen aufprallen.

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Dann sieht man einen perfekten Auftritt nach dem anderen. Anmutig gleitet er über den Boden, springt in die Höhe und landet leicht wie eine Feder wieder auf dem Boden. Haltung, Eleganz, Arroganz und nie ohne sein gewinnendes Lächeln am Schluss. Mit nur 19 Jahren wird er zum jüngsten Solo-Artist des Royal Ballet in London. Seine Zeit dort dokumentiert er mit seiner Kamera, mit der er Freunde, ausgelassene Abende und Eskapaden an Partys aufnimmt. Er ertränkt seine Sorgen im Alkohol und flüchtet sich in die Welt des Tanzes. Mit der bitteren Einsicht, dass seine Eltern nie mehr zusammenkommen werden, kommt nun zum hohen Druck ein unbeschreibliches Leiden dazu. Der Bad Boy der Ballettwelt schmückt die Seiten der Zeitungen und Magazine: Depression, Drogen und Einsamkeit zermürben den jungen Mann. Eine tiefe Traurigkeit ist in seinen Augen zu erkennen, wenn er von der Trennung seiner Eltern erzählt. Über seine Eskapaden spricht er nur mit einem halbherzigen Lächeln.

Zur selben Zeit tanzt er über die Bühne des Stanislavski Theaters in Moskau. Eine Sequenz zeigt, wie er sich mit Energyshots und Tabletten aufputscht. «In a bit, I will get so high», lässt uns Sergei wissen, während er in den Spiegel schaut und auf und ab hüpft. Diese Dinge sind für ihn notwendig, sie lassen ihn sogar den ganzen Auftritt im Nachhinein vergessen. Er wird aber auch in Russland nicht glücklich. Eine Einstellung zeigt Sergei bei einem Auftritt, wie er sich dreht und dreht und immer weiter dreht. Die Pirouetten hören gar nicht mehr auf und die Anspannung steigt, weil der finale Zusammenbruch erwartet wird. Wieder legt er aber einen perfekten Abschluss hin. Die Explosion geschah schon vor langem in seinem Innern.

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Seine Zeit in Russland ist ebenfalls kurz. Eine Aussprache mit seiner Mutter und ein Besuch seiner alten Tanzlehrerin in der Ukraine bilden einen sehr berührenden Einschub und waren vielleicht auch ein bedeutender Auslöser für Sergeis Entscheidung das Stanislavski Theater zu verlassen. Mit seinem besten Freund Jade Hale-Christofi beschliesst er, einen Abschlusstanz zu choreografieren und zu inszenieren. Zu «Take Me to Church» von Hozier erzählen sie Polunins Geschichte, in einer Mischung aus Modern Dance und Ballett in einem kleinen Häuschen mit grossen Fenstern ohne Scheiben in Haiti. Helle Farben, das Licht, das reinscheint, künstlicher Rauch und sein tätowierter, muskulöser Körper, der sozusagen über den Boden fliegt, schaffen die romantische Stimmung für das Video, das nun schon über sechzehn Millionen Klicks auf Youtube zählt. Und wie immer sitzt jede Bewegung und es scheint fast, als wäre in dieser Choreografie sein Herz und seine Seele verborgen. Sie sprüht vor Emotionen, sie berührt und ist ohne Zweifel ein wunderbarer Höhepunkt dieses sehr gelungenen, intimen Porträts.

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Victoria Gehriger hat im Juli 2016 bei Filmbulletin ein Praktikum absolviert.

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