Der Nebel im neusten Film der Brüder Taviani ist zäh. Erst am Ende wird der Protagonist klar sehen. Dieser Nebel, der in Una questione privata die Berge des Piemont in dichtes Weiss hüllt, verstellt den Blick. Er macht das Bild zweidimensional, entleert es und hinterlässt eine Art Projektionsfläche für Visionen, Träume und Erinnerungen. So ist auch die Erzählung von vielen Rückblenden unterbrochen, die in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg führen. Auch die Hauptfigur in diesem Film ist ein Benebelter, einer, der die Dinge nicht mehr klar sieht, der seinen eigenen dicken Nebel im Kopf trägt.
In Una questione privata prallen zwei Welten aufeinander: der nicht enden wollende Widerstandskampf in der kargen Berglandschaft Piemonts und die süssen Erinnerungen des Protagonisten Milton an an die Geliebte. Während die Gegenwart in kühl-grauen Farben erscheint, erstrahlt die Vergangenheit in warmen tröstenden Tönen. Wie passend, dass sich Milton zu den Klängen von Judy Garlands «Over the Rainbow» in diese einstige Traumwelt zurückversetzt. Damals war er ein zurückhaltender Englischstudent, der sein Pseudonym vom Autor von «Paradise Lost» bekommen hat. Jetzt ist Milton Partisane in Norditalien, während der Krieg sich bereits dem Ende zuneigt.
Zu Beginn des Films, als Milton auf der Flucht vor den Faschisten ist, taucht vor ihm aus dem Nebel das Haus von Fulvia, seiner grossen Liebe, auf. In traumhaften Rückblenden erfahren wir, dass Milton Fulvia seine Liebe nie gestanden hat. Im unterdessen verlassenen Haus deutet die zurückgebliebene Haushälterin an, dass Fulvia möglicherweise eine Liebesaffäre mit Miltons bestem Freund Giorgio hatte. Fortan lässt ihn der Gedanke nicht mehr in Ruhe. Er muss Giorgio, der eine Partisanengruppe leitet, zur Rede stellen. Doch dieser ist gefangen genommen worden und damit ausser Reichweite. Verzweifelt versucht Milton eine der «Karkerlaken», wie die Faschisten von den Partisanen genannt werden, für ein Tauschgeschäft zu finden: Kakerlake gegen Giorgio. Milton verliert den gemeinsamen Kampf der Partisanen völlig aus den Augen und führt einen privaten Krieg: vor allem gegen die Schatten der Vergangenheit und sich selbst.
Miltons verzerrter Realitätssinn spiegelt sich am deutlichsten in einer Szene wider, in der ein gefangener Faschist und ehemaliger Schlagzeuger mit zwei Stöcken in der Luft trommelt und dazu Geräusche macht, die weniger an Jazz als an Maschinengewehre erinnern. Ihm steht der Wahnsinn ins Gesicht geschrieben, und Taviani lässt uns lange in diese entgleisten Gesichtszüge blicken. Die langen Close-ups, ein beliebtes Stilmittel der Taviani-Brüder, werden auch Milton oft zuteil. Seine unausgesprochene Sehnsucht, die ihn plagende Ungewissheit und die zunehmende Verzweiflung über die Aussichtslosigkeit seines Unternehmens, für all dies steht die Projektionsfläche von Miltons Gesicht zur Verfügung. Doch so ganz will sich uns seine Faszination für Fulvia nicht vermitteln, und schon gar nicht auf uns Zuschauer_innen übertragen. Das Spiel von Valentina Bellè, die Fulvia darstellt, wirkt nicht nur unterkühlt, sondern hölzern. Ihr Rock, der vom Wind in die Höhe gehoben wird, als sie in den Baum klettert, wirkt verführerischer als ihr mädchenhaftes Flirten.
Der 85-jährige Paolo Taviani hat das erste Mal alleine Regie geführt. Sein älterer Bruder Vittorio konnte nach einem Autounfall nicht auf dem Dreh sein; er hat jedoch das Drehbuch, die Adaption von Beppe Fenoglios gleichnamigen Roman, mitverfasst. Es sollte nach 63 Jahren gemeinsamer Arbeit der letzte Film der beiden Brüder werden, denn Vittorio ist Mitte April verstorben.
Dieser letzte Film kann leider nicht an die früheren Meisterwerke anknüpfen. Die Verfilmung des in Italien berühmten Romans schweift manchmal zu sehr ins Fotoromanhafte ab; die Inszenierung wirkt allzu theatralisch. Schon der Nebel bewegt sich irritierend schnell, als wäre es Rauch (was er wohl auch auf dem Set war). Die Beschaffenheit von Miltons Welt ist auffällig sauber, drastische Szenen verbannt Taviani ins Off und auf die Tonspur. Den Horror des Krieges lässt er in einzelnen, seltsam distanzierten Vignetten aufleben, etwa wenn Milton an ein Bauernhaus gerät, vor dem die gesamte Familie erschossen liegt. Nur das kleinste Mädchen lebt noch. Sie erhebt sich, geht ins Haus, um einen Schluck Wasser zu trinken, und legt sich wieder zu ihrer toten Mutter hin.
Wie so oft in den Taviani-Filmen bildet die Landschaft auch in Una questione privata einen Gegenpol zum menschlichen Drama und bettet das einzelne Schicksal in einen universellen Rahmen. Wenn Milton seinen Weg durch die Hügel und ein Versteck vor den Faschisten zu sucht, wirkt er aufgehoben und verloren zugleich. So kann auch der Nebel über dieser Landschaft genauso Schutz wie Falle sein. Am Ende erkennt Milton endlich, wie gefährlich und egoistisch seine Obsession mit Fulvia ist. Der Nebel in seinem Kopf hat sich gelüftet.