Vorsicht: Dieser Film verursacht einen üblen Kater. Mit trockenem Mund, tauben Ohren und mentalen Bildern, die so gar nicht zum Kinofoyer passen wollen, verlässt man den Kinosaal nach Climax, dem neusten Werk des des argentinisch-französischen Regisseurs Gaspar Noé. Dieser macht ohne Zweifel «brilliant gestörte» Filme und geizt nicht mit «Ekstatischem», wie es Rezensionen zum jüngsten Film betonen.
Climax nimmt eine wahre Begebenheit von 1996 auf und zeigt eine Tanztruppe, die in den Räumen eines abgelegenen Schulhaustrakts im französischen Nirgendwo den Abschluss ihrer Proben feiert, bevor die geplante US-Tournee losgeht. Der allgemeinen Ausgelassenheit ist im Prolog ein blutiger Engel vorausgeschickt, gemacht von einer durch den Schnee taumelnden, blutverschmierten Tänzerin im Trägershirt. Darauf folgen eine unfreiwillig durch LSD im Sangria entfachte Gruppenekstase, eine schreckensvolle Trance wider Willen und die Suche des Schuldigen. Das «Grauen» im Morgengrauen danach ist wortwörtlich.
Ein bedeutungsschwangeres Filmintro zeigt auf einem alten Röhrenfernseher Interviews mit den Tänzer_innen. Sie alle sind im Leben Profitänzer_innen und nicht Schauspieler_innen. Die Dialoge wurden während des chronologischen Drehs weitgehend erfunden und improvisiert. Rocket, Cyborg, Gazelle, Daddy und, wie sie sich alle im Film nennen, beantworten Fragen wie «Was bedeutet für dich Tanz?» und «Würdest du alles tun, um es zu schaffen?». Dass «Suizid» als Antwort auf die erste Frage kommt, erstaunt wenig, schliesslich ist der TV-Bildschirm inmitten von Film- und Buchreferenzen plaziert, die andeuten, dass es ungemütlich wird: Die VHS-Videokassetten zeigen Noés Vorbilder: Regisseure wie Luis Buñuel, Stanley Kubrick, David Lynch oder Pier Paolo Pasolini, die mit psychoerotischen Themen gerne ihr Publikum verstören. Bei der Literatur stehen handfeste Misanthropen wie Friedrich Nietzsche und Emil Cioran neben der Drogenliteratur von Carlos Castañeda. Die eindeutigsten Vorahnung aber stammen von Buchtiteln wie «Le droit du plus fort» oder «Mode d’emploi – Suicide».
Nach diesem Intro begibt man sich unweigerlich in den «huis clos», die geschlossene Gesellschaft des Schulhauses. Dort folgt der einzige choreografierte Tanz in diesem sonderbaren, eigenwilligen Tanz- und Musikfilm, der teils einem Musikclip ähnelt und irgendwie auch als Antidrogenfilm durchgeht. Die Tänzer_innen um Choreografin Selva (Hollywoodtänzerin und -schauspielerin Sofia Boutella) fallen immer tief. Das heisst aus voller Drehung in der Luft knallen sie ausgestreckt auf den Boden. Was aussieht wie das getanzte Versagen des Körpers, steigert sich in eine aggressiv-sexualisierte und hyperaktive Trance. Doch die Tänzer_innen wirken dabei entkernt, sinnlos darauf getrimmt, Lust und Können zur Schau zu stellen. Teils lächerlich kreischend stolpern sie durch ihr selbstgemachtes Gefängnis in den Schulhausfluren, die sich zu Horrortunnels ihres Drogentrips wandeln.
Der Tunnel, so scheint es, ist eine beliebte Metapher des Abgrunds bei Noé, schon in Irreversible von 2002 schickte er Monica Bellucci in die unterirdische Passage, wo sie auf brutalste Weise vergewaltigt wird. In Climax herrscht sozusagen immer ein Tunnelblick, den die Kamera verstärkt. Lange, ungeschnittene Einstellungen zeigen den Tanz von oben, aus der Mitte heraus und ganz nah – bis am Morgen alles Kopf steht und sogar das Bild kopfüber gekippt ist. Diesem Bildersog, verstärkt durch die starken Beats, kann man sich kaum entziehen. Dafür entziehen sich uns einige Erzählstränge und verlaufen im Nichts – bezugslos, verloren im Trip.
Obwohl Gaspar Noé die Grenzen des Erträglichen mit destruktiver Gruppendynamik, ausartendem Drogenkonsum und Neunziger-Technomusik testet, bietet er dennoch Erkenntnisse über Höhenpunkte. Der Film hält auf mehrfache Weise, was der Titel verspricht und bietet Höhepunkte: Einerseits vollzieht sich die Handlung in aristotelischer Einheit von Raum und Zeit und steigert sich bis zum Moment, in dem die Drogen im Sangria bemerkt werden, danach folgt die Auflösung. Andererseits – und hier erweist sich Noé als experimenteller Erzähler – ist der Film eine einzige Studie des Spannungsabfalls nach dem Höhepunkt. Als solchen kann man nämlich den Beginn des Films betrachten, als sich 21 Tänzer_innen in ihrer Choreografie voller Einflüsse aus der Ballroom-Szene (Voguing, Krumping, Waacking) sowie dem Electro Dance total verausgaben. Was folgt, ist ein lang anhaltender Spannungsabfall im Drogenrausch. Auch wenn Schreie, Schrammen, Vorwürfe und sexuelle Lüste immer lauter respektive sichtbarer werden, steuert die Stimmung direkt auf einen schrecklichen Kater zu. Für jene zumindest, die lebend davonkommen.