Immer wenn Ruth Auto fährt, lässt sie den Motor aufheulen. Sie rast, als sei sie auf der Flucht. Einmal wird sie es auch sein und so raffiniert vor der Polizei fliehen, dass Steve McQueen beeindruckt gewesen wäre. Die Raserei will aber nicht so recht zu dieser unauffälligen, eher biederen Frau passen, die mit Mann und zwei Töchtern im Teenagealter in einem Einfamilienhaus irgendwo im langweiligen Schweizer Mittelland lebt. Regelmässig besucht die ganze Familie den Gottesdienst einer Freikirche. Sinnlichkeit gibt es in ihrem Leben nicht. Liebkosungen, geschweige denn Sex scheinen schon sehr lange her zu sein, das gemeinsame Abendessen mit der Familie dient vor allem der Nahrungsaufnahme, und wenn Ruth joggen geht, dann wirkt es mehr als körperliche Selbstzüchtigung.
Auch dass Ruth in einem neurowissenschaftlichen Forschungslabor arbeitet, in dem Experimente an Affen gemacht werden, überrascht. Sie kümmert sich dort um einen Resusaffen, dessen Kopf auf einen anderen Körper verpflanzt wurde. Das Tier leidet offensichtlich, sie leidet mit. Wie passt da ihr Glaube an Gott zu einer Arbeit, die sich anmasst, Gott zu spielen und mittels Transplantation die Sterblichkeit besiegen zu wollen?
So wie uns Simon Jaquemet in seinem zweiten Spielfilm Ruths Welt präsentiert – mit vielen faszinierenden Lücken und Ambivalenzen –, scheint sie in einem Gefängnis zu leben. Die Räume, in denen sie sich bewegt, die Kirche, ihr Haus, ihre Arbeit, sind karg, kühl, farb- und schmucklos. Ruth ist eine graue Maus in einer grauen Welt. Doch wir ahnen bald, dass Ruth ein Geheimnis hat. So kramt sie am Anfang aus dem Keller Fotos und aus ihrer Vergangenheit Erinnerungen an ihren damaligen Freund Andreas hervor, mit dem sie mal glücklich war. Doch vor zwanzig Jahren wurde er wegen Raubmord ins Gefängnis gesteckt; sie aber glaubte an seine Unschuld. Nun meint sie, ihn wiedergesehen zu haben. Ein Umstand, der ihr Leben ins Wanken geraten lässt.
Und tatsächlich taucht Andreas bald nachts wie ein Geist in ihrem Wohnzimmer auf und will mit ihr fort. Sie aber kann nicht. Noch nicht. Ob er das Produkt von Ruths Fantasie ist oder wirklich vor ihr steht, das lässt Jaquemet meisterhaft in der Schwebe: Obwohl Ruth kurz darauf von seinem Tod in Indien erfährt, knarrt das Sofa, auf dem sie sich später lieben, auffällig laut, als wolle es seine Existenz beweisen. Während das Bild also ein Phantasma evoziert, widerspricht die Tonebene mit allzu wirklichkeitsnahen Geräuschen.
Da Ruth trotz der Todesmeldung keine Zweifel an seiner Existenz hat, wollen ihr Mann und die Freikirchler sie heilen und den Teufel austreiben. Schon während dieser Exorzismusrituale wird die Skepsis des Regisseurs gegenüber der Religion, insbesondere diesem inbrünstigen, blinden Glauben seiner Protagonistin, notabene einer Wissenschaftlerin, spürbar. Erst recht aber, als ihr Mann die Besessene in einen Swingerclub führt, um ihr sozusagen in der Hölle den Teufel auszutreiben. Das wirkt fast komödiantisch, so absurd ist diese Idee. Aber ausgerechnet an diesem Ort der expliziten Lust bricht der Film mit seiner Ambivalenz und kippt überraschend in Surrealismus. Damit verschiebt er das Geschehen weitgehend ins Reich von Ruths Fantasie. Diese erlebt tatsächlich in der «Hölle» eine Katharsis: Sie fährt danach ins Labor und fügt zusammen, was zuvor getrennt wurde, näht den Kopf des Affen wieder an seinen ursprünglichen Körper. Nicht nur eine auffällige Ähnlichkeit von Ruth und dem Affen – der uns zuvor in langen Einstellungen gezeigt wurde, als paralysiert und nur noch dank verschiedenster Aparaturen am Leben – legt nahe, dass sie damit auch sich selbst wieder ganz macht. Als würden die Ideen in ihrem Kopf (der Glaube, die Familie, der Job) nicht zu ihrem Körper (der Sinnlichkeit, dem Bedürfnis nach Liebe) passen.
Ob dieses Zusammenfügen gelingen kann, ist natürlich fraglich. Auch Jaquemet hat gewisse Schwierigkeiten, seine vielen tollen Ideen zu einem stringenten Ganzen zu verweben. Einiges ist nicht ganz sauber vernäht oder wäre nicht notwendig gewesen für die Lebenstüchtigkeit des Films. Das Ende fühlt sich dennoch wie ein Happy End an: Ruth fährt los, ans Meer in die aufgehende Sonne. Mit heulendem Motor und endlich Farbe im Gesicht.
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