Langsam schwebt die Kamera über ein beiges Weizenfeld, aus dem sich eine junge Frau erhebt und das Gesicht zur Sonne richtet, als wäre sie aus dem Land heraus geboren. Diese Einführung der adoleszenten Protagonistin Chris Guthrie erweckt den Eindruck, Terence Davies habe die schummrigen Innenräume seiner bisherigen Werke für Sunset Song erstmals durch helle Aussenschauplätze ersetzt. Immerhin wird das Farmerleben im Schottland des frühen 20. Jahrhunderts in Lewis Grassic Gibbons Roman erheblich von der Natur bestimmt, deren Grün-, Beige- und Blautöne der Kameramann Michael McDonough in opulenten 65-mm-Breitwandtotalen einfängt.
In der Erinnerung mögen die nuancierten Landschaftsbilder zwar dominieren, doch schon der erste Umschnitt in ein Schulzimmer zeigt, dass Davies dem häuslichen Kammerspiel auch in Sunset Song weitgehend treu bleibt. Obwohl die Vorzeigeschülerin Chris ursprünglich Lehrerin werden will, begnügt sich der Film mit zwei atmosphärischen Momentaufnahmen aus der Schule. Denn wie Chris aus dem Off erzählt, ist sie innerlich zerrissen zwischen ihrer Liebe zur englischen Literatur und jener zum schottischen Grund und Boden, die spätestens nach dem Umzug auf das Landgut Blawearie an Bedeutung gewinnen wird.
Als Chris aus einer Ode an Aberdeen vorliest, lernen wir ihre Eltern in einem seltenen Augenblick familiärer Harmonie kennen. Denn wie in den früheren autobiografischen Filmen des eigenwilligen Liverpoolers Davies herrscht auch im Hause Guthrie ein gewalttätiger Vater über die ständig wachsende Familie. Zwar lässt Peter Mullan hinter dem kernigen Befehlston des Tyrannen ab und zu eine liebevolle Seite durchscheinen, das Leiden von Chris’ Mutter kann dies dennoch nicht lindern.
Lähmende Stillleben
Während Davies das Melodramatikpotenzial inhaltlicher Wendepunkte gern durch elliptische Raffung untergräbt, betont er jene lähmenden Momente, in denen sich die Familienmitglieder spannungsreich anschweigen oder reglos in den grünlich patinierten Wohnräumen zurückbleiben, deren Detailreichtum dank Digitalaufnahmen selbst bei wenig Licht zur Geltung kommt. Wenngleich die formale Strenge von Davies’ Bildkompositionen in Sunset Song dank konventionellem Continuity Editing weniger stark auffällt als in Distant Voices, Still Lives (1988) oder The Long Day Closes (1992), arrangiert er die Schauspieler auch hier zu planimetrischen tableaux vivants, die bisweilen zu Stillleben erstarren.
So wird beispielsweise die unverhältnismässige väterliche Züchtigung von Chris’ Bruder gerade dadurch unerträglich, dass die Kamera stoisch auf diesem verharrt, nachdem der Peiniger den Raum verlassen hat. Meist aber schwenkt die Kamera bei häuslicher Gewalt wie in Distant Voices, Still Lives auch in Sunset Song dezent vom Geschehen weg, wobei die Konzentration auf den Ton die Beklemmung noch steigert. Einmal verdichtet Davies die Erzählung gar, indem er die Geräusche einer ehelichen Nötigung mit den Schreien der daraus resultierenden Geburt verschränkt, während wir mit Chris und ihrem Bruder beide Ereignisse hilflos durch die Wand hindurch mit anhören müssen.
Trotz der distanzierten Inszenierung erzeugt Davies eine grosse emotionale Nähe zu Chris, wenn sie etwa nach Avancen eines Wanderarbeiters vor dem Spiegel wortlos ihre aufkeimende Weiblichkeit zu begreifen beginnt. Ähnlich Davies’ jungem Alter Ego in The Long Day Closes ist auch Chris eine klassische Beobachterfigur. Mehrmals steht sie wie Hester in [art:deep-blue-sea:The Deep Blue Sea] (2011) an einem Fenster, fast nur erhellt vom Tageslicht, das von aussen auf ihre scharf geschnittenen Gesichtszüge fällt. Dabei orientiert sich Davies besonders gern an der atmosphärischen Beleuchtung von Vermeer-Gemälden. Diesmal hat er sich zudem auf Anregung seines Kameramanns die Bilder des Dänen Vilhelm Hammershøi zum Vorbild genommen, der oft einsame Frauen in durch Fenster erhellten Räumen malte.
Erinnerung und Vergänglichkeit
Ein wiederkehrendes Motiv in Davies’ Werk ist das Treppenhaus, das der Regisseur immer wieder jener Treppe nachempfindet, auf der er als Kind jeweils auf die Rückkehr seiner Familie wartete. Während dieser Ort in den assoziativen früheren Filmen als Brücke zwischen den Zeiten diente, funktioniert er diesmal eher als Schwelle zu den schwer kontrollierbaren Vorgängen im oberen Stock und in der Aussenwelt. Denn im Gegensatz zu früheren Davies-Heldinnen ist Chris nicht nur von gesellschaftlicher Repression, sondern auch von Wind und Wetter abhängig. Gleichzeitig schöpft sie aus der schottischen Landschaft immer von neuem Kraft. Tatsächlich gibt die feingliedrige Agyness Deyn Chris ebenso bodenständig wie zerbrechlich (wobei sie für schottische Ohren offenbar zu sehr mit den lokalen Vokalfärbungen kämpft).
Nach dem Tod des Vaters sehen wir sie geradezu aufblühen. Mit ihrem einstigen Berufswunsch hat sie indes definitiv abgeschlossen. Als neue Herrin über Blawearie engagiert sie als Erstes eine erfahrene Haushälterin, wobei Davies die Zeit zwischen der Abreise der Verwandten und der Ankunft der Haushälterin in eine einzige elegante Kameradrehung packt. Solch autonome, meist von Gast Waltzings Filmmusik untermalte Kamerabewegungen dominieren denn auch die periodischen Montagen, zu denen Chris in der dritten Person über ihre innere Entwicklung und die Vergänglichkeit von Glücksmomenten sinniert.
Strukturierender Gesang
Waren Davies’ autobiografisch geprägte Figuren oft nur bei Kinobesuchen glücklich, erfährt Chris die lang erträumte Wertschätzung und Zärtlichkeit ausgerechnet in der Ehe mit dem Farmersburschen Ewan, den sie um fast einen Kopf überragt. Ganz im Stil der Hollywoodfilme aus Davies’ Kindheit, wo gemeinsames Singen selbst in Kriegsfilmen üblich war, übernimmt in Sunset Song das tradtionelle Liedgut eine ähnlich zentrale Funktion wie die unzähligen Showtunes in The Long Day Closes. Insbesondere die Ballade «Floo’ers o’ the Forest», die schon in Gibbons Roman vorkommt und von einer historischen Niederlage der schottischen Armee erzählt, wird zum Leitmotiv von Chris’ und Ewans Beziehung.
Wie exakt Davies die Musikszenen von vornherein plant, zeigt die Hochzeitsszene, bei der die ganze Gesellschaft in Chris’ A-cappella-Gesang von «Floo’ers o’ the Forest» einstimmt, bis diese nach einer langsamen Überblendung im unterdessen wieder leeren Raum die letzten Phrasen allein für Ewan singt. Mit dem gleichzeitigen Dehnen und Raffen der Zeit vermittelt Davies prägende Ereignisse gern als eine Art Zustand, zu dem die einzelnen Handlungen in der Erinnerung verschwimmen. In ähnlicher Weise zeigt er einen an sich ereignislosen sonntäglichen Marsch in die Kirche so ausführlich, dass der vom Glasgow Orpheus Choir gesungene Choral «All in the April Evening» ganz in den Vordergrund rückt.
Schliesslich leitet dieser Kirchgang noch einmal eine neue Phase in Chris’ Leben ein. Als Folge einer puritanisch-propagandistischen Predigt vergiftet nämlich der bereits vorher diskutierte, bis dahin jedoch weit entfernte Grosse Krieg das Glück der Kleinfamilie und prüft Chris’ Durchhaltefähigkeit und ihren Willen zur Vergebung in ungeahntem Mass. So erzählt dieser einfühlsame, in seiner Linearität gleichwohl konventionellste Film von Terence Davies auch vom Ende einer Epoche. Letztlich bleibt Chris nur das Land, das alle Veränderungen überdauert und als dessen Teil sie sich zunehmend selbst versteht.