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Umi yori mo mada fukaku

After the Storm/ Umi yori mo mada fukaku

Ein feinfühliges Familiendrama um einen erfolglosen und spielsüchtigen Autor, dem man auch als Zuschauer nur wohlwollend zuschauen kann, ähnlich wie seine Mutter: «Ein gutes Schmorgericht braucht Zeit, damit sich der Geschmack voll entfaltet. Bei Menschen ist es ähnlich.»

Text: Till Brockmann / 14. März 2017

Shinoda Ryotas Karriere als Schriftsteller hätte nicht besser beginnen können: Gleich mit seinem ersten Roman gewann er einen bedeutenden Literaturpreis. Das liegt allerding nun fünfzehn Jahre zurück. Seitdem hat er nichts mehr zu Papier und zustande gebracht. Den Vorschlag seines Verlegers, als Geschichtenlieferant zumindest einem aufkommenden Manga-Zeichner etwas unter die Arme zu greifen, lehnt er ab. Stattdessen arbeitet Ryota für eine Detektei, angeblich, so erzählt er es gerne, um für einen neuen Roman zu recherchieren. Damit kann er sich nur knapp über Wasser halten, denn seine Finanzen sind leider unablässig von seinem Hobby bedroht: bei Glücks- und Wettspielen treffsicher Geld zu verlieren.

Ryotas berufliche und finanzielle Scharte ist auch nicht durch ein sonniges Privatleben auszuwetzen. Viele Freunde scheint er nicht zu haben. Seine Frau Kyoko hat ihn schon vor vielen Jahren verlassen und ist mit einem ärgerlich erfolgreichen Mann zusammen. Sie gestattet es Ryota ausserdem nicht, den gemeinsamen Sohn Shingo allzu oft zu sehen, solange er nicht das geschuldete Geld für die Alimente aufbringt. Die Beziehung zu seiner einzigen Schwester ist ebenfalls nicht von Eintracht geprägt, da sie ihren Bruder aus gutem Grund als larmoyanten Taugenichts sieht. Und seine Mutter Yoshiko hat für ihren Sohn zwar ein offenes Haus und Herz, wie Mütter halt so sind, doch auch sie weiss, dass sie ihre wenigen Ersparnisse gut zu verstecken hat, wenn Ryota zu Besuch kommt, da er keine Skrupel kennt, die eigene Mutter zu bestehlen.

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Liest man nur diese Inhaltsangabe, kann man sich sehr verschiedene Filme vorstellen: vom aufreibend traurigen Familien- oder Sozialdrama bis zur fröhlich glucksenden Komödie. Wer jedoch die Filme des Japaners Hirokazu Kore-eda kennt, ahnt, dass beide Genreantipoden wohl nicht bedient werden. Als wahrhaftiger Autor, der sowohl für das Drehbuch als auch für die Regie und sogar für den Schnitt verantwortlich ist, schafft Kore-eda seine eigene Tonlage. Die Handlung von After the Storm entwickelt sich nicht entlang von Genrekonventionen, sondern gemäss der inszenatorischen Eigenwilligkeiten dieses international viel beachteten Filmemachers.

Tatsächlich wäre es ein Leichtes, die Geschichte dramaturgisch so zu verschärfen, Fallhöhe und Heimsuchungen so zu steigern, dass der Protagonist sich fürchterlich in seinem Schicksal quält und wir als Zuschauer mit ihm einen Leidensweg gehen. Es würden von Empathie getragene Momente grosser Emotion entstehen und die Spannung liesse sich trefflich mit den infamen Zwickmühlen des Lebens, aus denen es kein Entrinnen gibt, aufbauen. Diese Art des Erzählens interessiert Kore-eda aber bekanntlich wenig. Selbst bei seinen bittersten Stoffen, so etwa im grandiosen und an die Nieren gehenden Nobody Knows (2004), wo vier von einer Rabenmutter sich selbst überlassene Kinder in einer Wohnung langsam verwahrlosen, holt der japanische Regisseur nicht die grosse dramatische Keule hervor, reiht er eben nicht eine Abfolge von Wendungen und Schlüsselmomenten aneinander. Nein, er stopft (vermeintliche) dramaturgische Löcher mit subtilen Nachinszenierungen des Alltäglichen, ersetzt die sonst im Kino so wirksamen Schicksalsschläge, die sogenannten «grossen Szenen», mit harmloseren kleinen, die jedoch gerade durch diese Zurückhaltung unserer Realität oft näher kommen.

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So ist auch der Protagonist von After the Storm kein wirklicher Schurke oder heilloser Egoist, er ist nicht gemein oder böse, sondern – wie es bei Figuren dieses japanischen Filmemachers oft der Fall ist – nur schlicht vom Leben etwas überfordert. Ryota selbst bringt es einmal lakonisch auf den Punkt, wenn er gesteht: «Es ist nicht leicht, zu dem zu werden, der man sein will.» Auch seine Gegenspieler sind nur eine milde Version von Widersachern. Der Boss der Detektei unterstützt ihn und verzeiht ihm seine Notlügen. Sogar dann noch, als er herausfindet, dass Ryota und sein Detektivpartner hinter seinem Rücken unlautere Geschäfte machen: Die beiden informieren die beschatteten Personen von der Beschattung selbst und bieten ihnen an, den ursprünglichen Auftraggebern nichts zu berichten, alle Beweise zu vernichten, wenn sie dafür etwas zahlen. Ryotas Exfrau ist auch nur halbstreng mit ihm und lässt ihn den Sohn obgleich ausgelassener Unterhaltszahlung trotzdem ab und zu sehen. Und Yoshiko, die Mutter, die bereits unter Ryotas Vater litt, der offensichtlich ein ganz ähnlicher Taugenichts war, gibt sich zwar immer noch Mühe, ihren Sohn auf den richtigen Weg zu bringen, doch sie schickt schon beschwichtigend voraus: «Ein gutes Schmorgericht braucht Zeit, damit sich der Geschmack voll entfaltet. Bei Menschen ist es ähnlich.»

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Bei so viel Nachsicht ist es kein Wunder, dass auch beim Publikum für Ryota eigentlich nur Sympathie entstehen kann – es hilft natürlich auch, dass mit Hiroshi Abe ein Schauspieler gewählt wurde, der nicht nur treue Hundeaugen zu bieten hat, sondern ein apartes Gesamtpaket: Abe hat in Japan auch eine Karriere als Model hinter sich. Und manchmal erinnert der Protagonist sogar an Figuren von Woody Allen. Unbeholfen, sich selbstüberschätzend und immer wieder voller Hoffnung. So jemanden muss man gern haben.

Wenn wir schon bei der Besetzung sind: Die heute vierundsiebzigjährige Schauspielerin Kirin Kiki ist als Mutter wieder einmal grandios. Mit kleinen beiläufigen Gesten, mit Körper- und Kopfhaltung, mit flüchtigen Blicken und klug gesetzten Verzögerungen entfaltet sie eine Glaubhaftigkeit, bei der wirklich nichts erzwungen daherkommt. Da sitzt man nicht mehr im Kino, sondern bei einer Mutter in der Küche. Wunderbar zum Beispiel die Szene, wo sie Ryota davon überzeugen will, dass ihr selbstgemachtes Wassereis doch viel besser sei als die teure Eiscreme, die man im Laden kauft und die ihre Enkelkinder im Nu verschlingen. Dann sieht man sie jedoch wenig später mit eingestehendem Schmunzeln in dem viel zu hart gefrorenen Selbsterzeugnis hilflos mit dem Löffel herumstochern. Von solch erquicklichen Vignetten lebt dieser Film.

Kiki hat in den vergangenen Jahren schon des Öfteren die Rolle der Mutter oder Grossmutter im japanischen Kino übernommen und das allein vier mal in Werken von Kore-eda. Besonders ist Still Walking (2008) zu erwähnen, einer der erfolgreichsten Filme des Regisseurs: Dort ist sie die Mutter eines jungen Mannes, der auch Ryota heisst und ebenfalls von Hiroshi Abe gespielt wird. After the Storm ist nicht nur aufgrund dieser augenscheinlichen Parallele in Vielem eine Art Fortsetzung dieses früheren Films, der unter anderem die Unmöglichkeit thematisiert, dass Kinder den Erwartungen ihrer Eltern vollends gerecht werden.

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After the Storm kommt jedoch viel leichtfüssiger und lieblicher daher als Still Walking und praktisch alle anderen Werke von Kore-eda. Dabei läuft er zuweilen ein bisschen Gefahr, und das ist wohl eine der wenigen Schwächen des Films, dass die Stringenz der psychologischen Beobachtung vom Niedlichkeitsfaktor verwässert wird. Anders gesagt, der Humanismus und Goodwill gegenüber allen Figuren wirkt streckenweise, wenn nicht grad seicht, doch zumindest etwas ausgestellt und aufs Auge gedrückt, dazu noch unterstützt von einer sehr wohlwollenden Musik. Vielleicht spielt bei dieser Einschätzung auch die westliche Perspektive eine Rolle: Eine für unsere Begriffe zu grosse Sentimentalität ist etwas, das seit jeher dem ostasiatischen und insbesondere dem japanischen Melodram als Pauschalvorwurf entgegengehalten wurde. Kore-eda hat es, wie die Altmeister Yasujiro Ozu und Mikio Naruse, mit denen er, ob zu unrecht oder nicht, oft verglichen wird, immer verstanden, seinen Familiengeschichten trotz viel Gefühl und Beschaulichkeit eine sozialrealistische oder zumindest psychologisch realistische Nüchternheit zu bewahren. Es ist zu hoffen, dass ihm das auch in den nächsten fünfundzwanzig Jahren seiner Karriere weiterhin gelingt.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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