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Lasst die Alten sterben

In Juri Steinharts Lasst die Alten sterben sind es die kumpelhaften Eltern, gegen die es die Generation Y nicht schafft, sich aufzulehnen – auch nicht, nachdem man sich von der Sedation durch Smartphone und Medikamente befreit hat. Es gibt kaum etwas, gegen das man sich auflehnen könnte. Woher soll da die Wut und Energie kommen, etwas Neues zu schaffen?

Text: Tereza Fischer / 09. Okt. 2017

Es gibt unzählige Bezeichnungen für die Jugend von heute, die meisten sind wenig schmeichelhafte Adaptionen von «Generation Y»: «Generation Me», «Generation Smartphone» und «Selfie», «Generation Casting» oder gar «Generation Fake»? Unglücklich und orientierungslos soll sie sein. Jedenfalls wird sie gerne in den Medien verunglimpft und ihr eigennütziges, forderndes und oberflächliches Verhalten für hochproblematisch erklärt. Aber das gehört zur Normalität, denn jede Generation weicht von der vorangehenden ab, und was von der Norm abweicht, ist suspekt. Allerdings wird der Generation Y oft auch vorgeworfen, sie sei zu konformistisch. Rebellion findet nicht statt. Das wiegt fast noch schlimmer, werden doch rückblickend die Hillbillys, Flowerpower-Kinder und Punks verklärend als innovativ und kreativ hochgejubelt. All die lamentierenden Kommentatoren vergessen dabei, dass sie zu jener Generation gehören, die die Umgebung geschaffen hat, in der die Jungen sozialisiert wurden. Sie hat ihnen die Mobiltelefone in die Hand gedrückt und die auf Konformismus trimmenden Schulen geschaffen.

Junge Schweizer Filmemacher versuchen immer wieder, ihrer eigenen Generation eine nachvollziehbare Diagnose zu stellen. In Lisa Blatters [art:skizzen-von-lou:Skizzen von Lou] steht etwa die Unfähigkeit, sich zu binden, sich einzulassen und Fuss zu fassen, im Zentrum. Etwas weiter schaut Jan Gassmann in seinem Semidokumentarfilm [art:europe-she-loves:Europe She Loves] und zeigt das Bild junger, definitiv nicht im Überfluss lebender EuropäerInnen, für die die Zukunft einer ökonomischen Wüste gleicht. Dieses Jahr bekam die verwöhnte Schweizer Generation Y in einem Hochschulfilm den Übernamen «Generation Brunch». Die beiden Protagonistinnen können sich nicht zwischen veganem Müesli und amerikanischen Pancakes entscheiden und schon gar nicht, was sie im Leben machen wollen. In diesem Kurzfilm über zwei zur Kommunikation und Entscheidung unfähige junge Frauen wird am Ende interessanterweise die Punkkultur romantisiert.

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Auch Juri Steinhart nimmt in Lasst die Alten sterben den Unterschied zwischen der heutigen und früheren Jugendkulturen auf und wirft damit die nicht unwichtige Frage auf, wie man sich heutzutage von den jung gebliebenen, kumpelhaften Eltern ablösen kann. Kevin («Der Name ist eine verdammte Diagnose.») hängt mit seinem besten Freund Manu rum, hat immer sein Smartphone in der Hand, postet regelmässig Selfies von seinem Bizeps und konsumiert Drogen in bescheidenem Mass. Einen Job hat er nicht. Er lebt noch zu Hause bei seiner frustrierten Mutter und seinem übereifrigen Vater. Der war mal Punk, fährt jetzt einen Hybrid und arbeitet als Berater eines Ökofonds. Gern schwelgt er in Erinnerungen an die gute alte Zeit und hat für seinen Sohn so viel Verständnis, dass darob selbst in uns Zuschauern die Wut hochsteigt. Gegen was soll man sich da bitte schön abgrenzen, wenn der Vater am liebsten die Joints mit dem Sohn zusammen rauchen würde. Immerhin hat Kevin eine Möglichkeit, zu protestieren und sich zu befreien, gefunden: Er setzt die «Helferli» ab, das Ritalin, das ihn jahrelang «beruhigt» hat – ADHS, auch so eine typische Diagnose für diese Generation. Das tönt vielleicht nach Klischee, erscheint aber durchaus adäquat in Zeiten, in denen die Kinder von der Schule und ihren Eltern trotz Individualismuswahn alle gleich erzogen oder zum Normalsein therapiert werden und in denen sie sich dank Social Media und Filterbubble auch alle am Gleichen orientieren.

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Steinhart lässt in diesem trostlosen Dasein Entzugserscheinungen in Form von Halluzinationen für einen abrupten Lebenswandel sorgen: Kevin bekommt einen Punk als imaginären Freund zur Seite gestellt, der ihm etwas Anarchie beibringen soll. Der aus der Gleichgültigkeit Erwachte zerstört sein Handy, kauft die richtigen Klamotten (die jetzt eher als Modetrend denn als Provokation wirken), besetzt ein Haus (da scheint niemand etwas dagegen zu haben) und sucht Mitstreiter und Mitbewohner. In einem Casting finden sich schnell weitere Mitglieder für sein Kommunenrevival.

Für eine kurze Zeit ist Kevin glücklich in seiner Kommune, die allerdings einen Ämtliplan hat und das mit der freien Liebe nicht wirklich praktizieren mag. Das ist witzig anzusehen, und Max Hubacher als Kevin versprüht die richtige Portion Verzweiflung und Übermut. Zerstört wird das kurze Glück – wie könnte es anders sein – vom Vater, der als besserer Punk der Kommune Nachhilfe erteilt, in kollektiver Nacktheit, Drogenkonsum und in politischer Gesinnung. Die ist erstaunlicherweise schnell gefunden: Lasst die Alten sterben! Und zwar nicht nur, damit man für die Alten, die zu lange leben und Rente beziehen, nicht arbeiten muss, sondern auch, weil nur so die Ablösung von den eigenen Eltern gelingt. Die Alten, die eigenen kumpelhaften Eltern, gegen die man es nicht schafft, sich aufzulehnen – auch nicht, nachdem man sich von der Sedation durch Smartphone und Medikamente befreit hat. Woher soll da die Wut und Energie kommen, etwas Neues zu schaffen?

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Juri Steinharts Tragikomödie bringt tatsächlich etwas auf den Punkt. Die Stereotypisierung der Figuren und Themen spiegelt dabei das Leben der von Austauschbarkeit und Oberflächlichkeit geplagten Generation. Sowohl auf Dialogebene als auch visuell funktioniert die verspielte Komödie über weite Strecken. Dabei wird erfrischend viel geflucht. Nur manchmal rutschen Max’ Monologe in einen weniger passenden Vortragsstil. Steinhart zeigt in seinem ersten Spielfilm, dass er dank vieler Auftragsarbeiten und der Erfahrung mit der Webserie Experiment Schneuwly einen ausgeprägten Sinn für Timing, Schauspielerführung und Dramaturgie besitzt. Erst im letzten Viertel verliert der Film etwas an Tempo.

Überraschend sind vor allem die teilweise ganz kurzen Wechsel zwischen Schwarzweiss und Farbe. Das Schwarzweiss, in dem das Kommunenleben gehalten ist, verortet es irgendwo zwischen Irrealität und Vergangenheit, indem es den Unterschied zur realen Welt demonstriert und an historische Dokumente erinnert. Die Realität bricht da immer wieder in ihrer ganzen Farbenpracht als Störelement ein. Am Anfang gaukelt uns der Film so auch vor, die Handlung spiele in den achtziger Jahren, bis ein allzu bekanntes Smartphone-Klingeln diese Illusion zerstört. Wie passend, denn es zerstört auch die Illusion, der sich Max hingibt, er könne die alten Zeiten wiederaufleben lassen und eine echte Rebellion zustande bringen. Wenn Max schliesslich aus lauter Verzweiflung, mit seinem Tun nicht gegen den Vater aufbegehren zu können, entscheidet, sich dem IS anzuschliessen, bleibt uns das Lachen im Hals stecken, und wir fühlen mit der «Generation orientierungslos» mit.

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