Ivan Locke hat sich entschieden: Er wird sich jetzt in sein Auto setzen und sofort die Baustelle verlassen und von Birmingham nach London fahren, zu Bethan, um ihr bei der Geburt ihres Kindes beizustehen. Die war eigentlich erst in zwei Monaten anvisiert, das hätte ihm Zeit gegeben, Dinge zu regeln, doch dafür bleibt ihm jetzt nur noch diese eine Nacht. Und es gibt vieles zu regeln, denn Bethan ist nicht die Ehefrau des Familienvaters Locke, auf den an diesem Abend zu Hause seine beiden Söhne und seine Ehefrau Katrina warten, um gemeinsam das Fussballspiel ihres Lieblingsvereins im Fernsehen anzuschauen. Mit Bethan hat der Bauingenieur bei einem Auswärtsjob, nach einer Betriebsfeier alkoholisiert, eine einzige Nacht verbracht, seit drei Monaten weiss er, dass sie sein Kind zur Welt bringen wird. Das Gespräch mit Katrina darüber, was das für die Zukunft der Familie bedeutet, hat er immer wieder aufgeschoben, jetzt endlich will er reinen Tisch machen.
Aber das ist nicht das einzige Problem, dem sich Ivan Locke in dieser Nacht zu stellen hat. Auf der Baustelle steht am nächsten Morgen die Vollendung an, der Betonguss des Fundaments für ein 55-stöckiges Gebäude. Dafür müssen jede Menge Lastwagen termingenau eintreffen, die von verschiedenen Werken der Umgebung mit dem Zement kommen, der eine bestimmte Konsistenz haben muss. «C6!», schärft Locke seinem Assistenten Donal ein, dem er über das Mobiltelefon Anweisungen erteilt.
Locke ist ein Kammerspiel um moralische Entscheidungen, mit einer Besonderheit: Die Kamera verharrt anderthalb Stunden auf dem Gesicht von Ivan Locke, seine Gesprächspartner sind nur als Stimmen am Telefon präsent, und Rückblenden gibt es erst recht nicht. So steht und fällt der Film mit seiner Hauptfigur und deren Darsteller: Tom Hardy, der als Schurke im letzten Batman-Film von Christopher Nolan, The Dark Lnight Rises, sein Gesicht die ganze Zeit lang hinter einer Maske verbarg, trägt diesmal einen Vollbart. Der macht seine kantigen Gesichtszüge weicher, das passt zu seiner Sprechweise, die zwar entschlossen ist, dabei aber ruhig und gelassen bleibt, wie aufgeregt sein Gegenüber am anderen Ende der Leitung auch werden mag. Understatement ist der Schlüssel zu dieser Figur, mit der Hardy gewissermassen auch den Gegenentwurf zum professionellen Gangster und begnadeten Selbstdarsteller Bronson im gleichnamigen Film von Nicolas Winding Refn (2008) liefert – und all jenen anderen Filmen, die seine Physis in den Vordergrund stellten.
«Mich interessieren starke Persönlichkeiten, die sich in einer schwachen Position befinden, auf die sie reagieren müssen», sagt Steven Knight. «Meine Theorie ist, dass die Zuschauer vor allem auf die Augen der Figuren gucken. So habe ich mich gefragt, ob es möglich ist, das mit einem einzigen Darsteller zu erreichen. Zudem wollte ich ihn anlegen als den normalsten Menschen in ganz Grossbritannien, der den normalsten und langweiligsten Job hat, er arbeitet mit Beton.»
Locke ist die zweite Regiearbeit von Steven Knight. Bekannt geworden ist der 1959 geborene Brite als Drehbuchautor, zumal mit den originellen Vorlagen für Dirty Pretty Things (2002, Stephen Frears) und Eastern Promises (2007, David Cronenberg). Die beiden Drehbücher fügen sich zusammen mit seinem Regiedebüt Hummingbird (2013) zu einer Trilogie der Londoner Unterwelt: kriminelle Machenschaften, gleichermassen nah und unsichtbar. Locke ist ein Triumph des klassischen Kinos, das keine Spezialeffekte benötigt, sondern zeigt, was ein Darsteller vermag: die Zuschauer anderthalb Stunden lang in seinen Bann zu ziehen und sein moralisches Dilemma mit ihm zu teilen.