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Vie d adele 01

La vie d’Adèle. Chapitres 1 et 2

Der tunesisch-französische Regisseur Abdellatif Kechiche bringt uns mit einer solchen Intensität eine meist körperlich motivierte Beziehung zweier junger Frauen nahe, deren Exekution vor der Kamera keineswegs unterschieden sein dürfte von einer, die für einen pornografischen Film gefordert ist.

Text: Erwin Schaar / 16. Dez. 2013

Den Gewinnern grosser Festivals wie Cannes oder Venedig wird zumindest eine kurze Zeit viel Publikumsaufmerksamkeit zuteil. Besonders auffallend dann, wenn die Filminhalte, sei es thematisch oder inszenatorisch, Tabus oder zumindest gesellschaftliche Probleme berühren, die zwiespältige Stellungnahmen herausfordern. Die Sexualität ist eine dieser menschlichen Eigenschaften, die Gefühle aufwühlen können. Das mögen ein paar verkürzte Stellungnahmen unterstreichen, die zur Festivalpräsentation von La vie d’Adèle in Cannes unter vielen vielen anderen erschienen sind: «Es ist das erste Mal, dass in Cannes ein Film mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wird, in dem Homosexualität im Mittelpunkt steht» (Zeit online), «Ungefilterter, keuchender, klatschender Sex zwischen zwei schönen, jungen Frauen, eine Kamera, welche die Körper fast berührt – und keine Spur von Pornografie» (SRF), «The best film at Cannes is the french, lesbian answer to brokeback mountain» (The Atlantic). Wir werden immer wieder genötigt, bei intimen Beziehungen oder deren Darstellungen die Berechtigung oder Legitimation zu betonen, wenn Zustimmung erfolgen soll. Die Provokation gedeiht allerdings auf einer anderen Ebene und fordert ad hoc den Widerspruch.

Der tunesisch-französische Regisseur Abdellatif Kechiche bringt uns mit einer solchen Intensität eine meist körperlich motivierte Beziehung zweier junger Frauen nahe, deren Exekution vor der Kamera keineswegs unterschieden sein dürfte von einer, die für einen pornografischen Film gefordert ist. In langen und intensiven Aufnahmen, in denen sich die Kamera auch ganz nahe an die Zuneigung zweier nackter Körper heranwagt, werden wir Zuseher von Liebesakten, die im allgemeinen eher voyeuristischen Blicken vorbehalten bleiben.

Wie im wirklichen Leben beginnt in Kechiches Film die bewusste Einstimmung für die menschliche Gemeinschaft in der Schule. Die um die fünfzehn Jahre alten jungen Leute werden mit den theoretischen, trotzdem phantasievollen Ein- und Auslassungen Marivaux’ in «Le jeu de l’amour et du hasard» traktiert. Die Szenen erinnern an den Unterricht in Laurent Cantets La classe. Ähnliche Präsentation durch eine bewegte Kamera – jetzt sind die Schüler nur älter und eben mit einer Literatur beschäftigt, die auf das Thema des Films verweist. Und langsam schält sich die Figur heraus, deren Sinnen und Trachten nach der Liebe zu einer Frau gerichtet sein wird: Adèle. Ihre Schulfreundinnen sind wie üblich in dem Alter ganz hingerissen von den Jungen, auf deren Aufmerksamkeit sie erpicht sind. Adèles Bedarf scheint da eher von der Norm denn vom Verlangen beeinflusst. Die sexuelle Begegnung zwischen ihr und einem Jungen ist eher der Konvention des Alters geschuldet. Wenn sie mit den Mitschülerinnen zusammensteht, wird sie einer jungen Frau mit blau gefärbten Haaren hinterherblicken. Später erfahren wir, dass deren Name Emma ist, Kunststudentin aus gutem, auch intellektuellem Elternhaus, während Adèle, wie man so schön sagt, einfachen Verhältnissen entstammt.

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Die schöne Adèle wird Emma kennenlernen, deren Ausstrahlung von einer solch erotischen Prägnanz ist, dass die Bilder beim Zusehen ein sinnliches Verlangen auslösen mögen. Die Handlung des Films umschliesst dann wie eine Fassung die körperlichen Begegnungen der beiden jungen Frauen, die sich zu einer Amour fou steigern. Adèles Verhältnis wird von ihren Mitschülerinnen mit Worten und Taten aggressiv verurteilt: «Hat die Schlampe auch eine blaue Pussy?» Der Bruch der sexuellen Norm zerstört die dünne Haut der als normal geltenden sozialen Bindung. Und Kechiche verliert sich fast in einer Apotheose der körperlichen Begierde dieser zwei Frauen und in einem ästhetisch ungetrübten Anblick. In Nahaufnahmen der beiden sich vereinigenden Körper erfahren wir die Ekstase des Verlangens. Ein Sexualakt ist ja realiter aufregend, erregend, erfüllend – kann es sein. Die mechanische visuelle Dokumentation muss konzentrierter das Geschehen vermitteln, weil die Teilhabe eben nur visuell und künstlich ist, all die körperlichen Berührungen, der Geruch, die Ausscheidungen der Haut nicht spürbar werden. Die Diskussion um Pornografie beginnt aber bei der Darstellung der sexuellen Befriedigung. In vielen ersten Kritiken und Stellungnahmen nach der Vorführung in Cannes wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich dabei nicht um Pornografie handeln würde, weil die künstlerische Qualität zu herausragend sei, die Intention der Darstellung wahrhaftig. Abgesehen davon, dass die Diskussion um die Pornografie noch nie zu einem allgemeingültigen Urteil geführt hat, darf angesichts der Ausführlichkeit der Darstellung in Kechiches Film schon die Ansicht geäussert werden, dass diese natürlich in diesem Ausmass zum propagandistischen Stilmittel des Films geworden ist und ohne sie der Film kaum die Aufmerksamkeit und die Preiswürdigkeit erreicht hätte. Daher mag man zur Rechtfertigung vielleicht mit Paul Goodman, dem amerikanischen Autor und Gestalttherapeuten, urteilen: «Die Frage ist nicht, ob Pornografie; die Frage ist: wie steht es um die Beschaffenheit der Pornografie.» «Genau darum geht es in der Tat», meint Susan Sontag in ihrem Essay «Die pornografische Phantasie».

Das Verhältnis von Adèle und Emma wird im Laufe der filmischen Geschichte zerbrechen. Kechiche lässt in einem irritierenden filmisch zeitlosen Vergehen der Zeit Adèle ihren Beruf als Kindergärtnerin und Lehrerin finden, aber die körperliche Beziehung ist so tief in ihre Persönlichkeit eingedrungen, dass sie immer ein Movens sein könnte, die Hingabe wieder aufzunehmen. Da ist Emma mit ihrer künstlerischen Tätigkeit autarker gezeichnet, überlegter, aber damit auch begehrenswerter. Vielleicht sind ja die Kapitel eins und zwei nur ein Teil der Geschichte, und das Leben der Adèle wird weitere Höhepunkte als Einschnitte erfahren. Wir können sie doch gar nicht in dieses für sie traurige Alleinsein verschwinden lassen!

Jede oder jeder, die oder der diesen Film sieht, wird nachdenklich sein, mit welcher Intensität zwei Darstellerinnen, die nicht dem Pornogewerbe angehören, sich solcher Intimität ergeben. Wenn man über diesen Film spricht, dann wird man diese Frage nicht ausklammern können. Nun sind wir schon viel gewohnt an intimen Darstellungen, da sind selbst Theaterbesucher nicht mehr davor gefeit, dass von Schauspielern beiderlei Geschlechts die Überschreitung von Schamgrenzen gefordert wird, die gar oft Zuschauer in die Flucht treiben. Solche Darstellungen wie die von Adèle und Emma wären auf einer bürgerlichen Theaterbühne nicht möglich. Kechiche meint, dass ihn die Schönheit der körperlichen Beziehung angeturnt hätte und diese Szenen wie Malerei gefilmt wurden, wie Skulpturen – und dann mag sicher auch die moderne Rezeption von Filmen im Netz oder auf Smartphones die Nähe der Einstellungen bestimmt haben, um den Betrachter noch genügend auf kleinem Format zukommen zu lassen (im Interview hat ein Star wie Winding Refn sogar betont: «Ich drehe meine Filme für Smartphones»). Kechiche weiss eigentlich sonst wenig über die Gestaltung zu erklären, ausser dass eine Menge Zeit für die Ausleuchtung verwendet wurde. Kechiche in seiner Verbundenheit zu Tunesien trifft aber eine politische Aussage, er möchte den Film der Jugend Tunesiens widmen, weil die Revolution erst durch die sexuelle Revolution ihre Vollendung erfährt.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 8/2013 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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