Nostalgisch. Im eigentlichsten und bezauberndsten Sinn nostalgisch ist der neue, je nach Zählung neunte oder zehnte Musikfilm von Stefan Schwietert. Derart “nostalgisch”, dass “Ostalgie”, diese bisweilen bizarr anmutende Sehnsucht nach dem, was in der Hochblüte des europäischen Kommunismus seine eigene Qualität besass, immer auch mitschwingt. Denn hinter dem Eisernen Vorhang lag eine Welt von eigener Wertigkeit, die pflegte, was der Westen gern gering achtete: Tradition, Brauchtum, ein nationales Bewusstsein auch. Nachgerade der Volksmusik, zeigt sich in Balkan Melodie, ging es damals wesentlich besser. Sie wirkte, vom Staat funktionalisiert, zwar nicht sonderlich authentisch. Doch die Musiker – im Falle Rumäniens vor allem die Zigeuner-Musiker, aber auch die Sängerinnen der legendären Frauenchöre Bulgariens – führten vor der Wende als vom Staat als Musiker angestellt ein “normales” Leben. Davon können sie heute nur noch träumen.
Das Reisen in Europas Osten hingegen, erinnert sich der «Organist, Ethnomusikologe und Musikproduzent» (Wikipedia) Marcel Cellier in Stefan Schwieterts Film, war damals ungemein umständlich. Man brauchte Visa und Pass. Die Grenzen waren gesichert, die Zollposten besetzt. Man musste für alles und jedes eine Deklaration ausfüllen. Gleichwohl ist der 1925 in Zürich geborene Cellier, der bis zu seiner Pensionierung in einer Schweizer Erz- und Metallfabrik arbeitete und seiner Musikleidenschaft bloss in der Freizeit frönte, mit seiner Frau Catherine zwischen 1950 und 1990 unzählige Male in den Osten gereist. Über 65 Mal, heisst es in Schwieterts Film, allein nach Rumänien. Doch diese Mühsal, meinen Cellier und seine Frau Catherine heute gemütlich auf einem Sofa in ihrer schmucken Waadtländer Villa sitzend – einen derart wunderschön blühenden Garten wie denjenigen der Celliers hat man in einem Schweizer Dokumentarfilm bisher kaum gesehen! – habe sich gelohnt. Sei es wert gewesen. Weil sich zur Zeit des Kalten Krieges im Osten Europas eine Musik entdecken liess, die sich in Tonalität, Melodie und Klangfarbe wesentlich von derjenigen des Westens unterschied. Und weil da auf exotisch anmutenden Instrumenten gespielt wurde, deren Namen damals im Westen kaum jemand kannte: Cymbalom, Taragot, Panflöte.
So war die Faszination grösser als die Angst, grösser als die Ungemach. Unzählige Fotos hat Catherine Cellier auf den mit ihrem Mann unternommenen Reisen geschossen, ihre Abenteuer erst mit einer Super-8-Kamera, später mit einer Video-Kamera festgehalten: Holprige Fahrten durch endlose Landschaften. Ein einsamer Mercedes mit Schweizer Kennzeichen auf morastigen Strassen. Alleen. Fussgänger. Menschen mit Handkarren. Pferdefuhrwerke. Kaum je ein anderes Auto. Höfe, Weiler, Dörfer; heruntergekommen, verlottert, ärmlich: Der real gelebte Sozialismus ergab – und ergibt noch heute – kein Bild bunter Heiterkeit. Vielen von Celliers Bildern wohnt die Flüchtigkeit inne: Die Menschen des Ostens mieden die Westler; schüchtern linsen auf einer ländlichen Hochzeit Tänzerinnen und Musiker in die fremde Kamera.
Ein Roadmovie und zugleich ein Zeitreisefilm ist Schwieterts Balkan Melodie. Ausgehend von der Begegnung mit dem fünfundachtzigjährigen Cellier und seiner Frau sowie schöpfend aus der bunten Fülle des reich bestückten Bild- und Tonarchivs der Celliers blendet der Film zurück in eine Zeit, die zwanzig Jahre nach dem Fall des Kommunismus längst vergangen zu sein scheint. Gleichzeitig bricht er aber auch auf. Schwietert (be-)sucht die Protagonisten von damals, fragt nach Schicksalen. Holt im grossen Bogen zwanzig Jahre Geschichte ein, skizziert in flüchtigen Strichen eine postkommunistische Gegenwart, in welcher Bands wie die rumänische «Mahala Rai Banda» unter Aurelio Ionita mit ihrer Funk-Fusion aus traditioneller Tanz- und Blechkappellenmusik auf den urbanen Bühnen des Westens zwar durchaus Erfolge verzeichnen; die meisten (Zigeuner-)Musiker zu Hause aber arbeitslos sind. Auf der Leinwand verweben sich die verschiedenen Ebenen. Fügen sich die Erinnerungen, Erzählungen, Interviews, die Musikaufnahmen von damals und heute einander ergänzend zum dichten Puzzle. Da schwelgt – derweil der heute siebzigjährige Gheorghe Zamfir in Bukarest einige Jugendliche in der Kunst des Panflötenspiels unterweist – Cellier in Erinnerungen an eine Zeit, in der er dem rumänischen Panflötenvirtuosen im Westen den Weg ebnete: «Sein Spiel war so grossartig, dass man nicht unberührt bleiben konnte», schwärmt Cellier noch heute. Gleichwohl haben sich ihre Wege getrennt. So wie auch diejenigen von Cellier und den Sängerinnen der bulgarischen Frauenchöre, die in den achtziger Jahren als «Le Mystère des Voix Bulgares» die Bühnen des Westens stürmten; der Erfolg damals überrollte Cellier, und er gab seine Rechte an den Aufnahmen ab, nach der Wende verloren die Sängerinnen ihre Anstellung. Es war Fügung, Begabung, Leidenschaft, nicht zuletzt die klug genutzte Gunst der Stunde, welche Cellier und die Musiker des Balkans zueinander führte und gemeinsam gross werden liess. Es ist Schwieterts Verdienst, dass deren Geschichte in Balkan Melodie festgehalten wird, bevor die verschiedenen Protagonisten von der Weltbühne abtreten.
Und dann ist Balkan Melodie – doch das muss man, wo Stefan Schwietert für die Regie zeichnet, eigentlich gar nicht explizit erwähnen – auch ein grossartiger, nämlich mit ausgeprägtem Gespür für die kongeniale Kombination von Bild und Ton gefertigter, in Herz und Beine fahrender Musikfilm.