Sorgfältig ordnet ein adrett gekleideter Mann mit klassischem, rotem Halstuch in einer Zürcher Philatelie seltene Briefmarken. Eine märchenhafte Melodie erklingt, dazu singt eine liebliche Frauenstimme. Die Kamera schwenkt auf das Album voller Raritäten und fokussiert ein Häufchen kleiner brauner Körner: Sand. Der Mann verliert Sand. Dieses skurrile Szenario ist das wiederkehrende Motiv in Peter Luisis neuem Film Der Sandmann. Nach Love Made Easy (2006) und Verflixt verliebt (2004) hat Luisi mit seinem dritten Kinospielfilm ein modernes Märchen geschaffen. Der nach Glück strebende Held der Geschichte heisst Benno. Seine Aufgabe: er muss herausfinden, weshalb ihm plötzlich Sand aus den säuberlich gefalteten Hemdärmeln und den gebügelten Hosenbeinen rieselt.
Schnell wird klar, dass des Rätsels Lösung irgendwie mit Bennos verhasster Nachbarin Sandra zusammenhängt. Sandra führt das hübsche Café unterhalb von Bennos Wohnung. Dort übt sie nachts – Bennos Schlafbedürfnis zum Trotz – lautstark für ihren Durchbruch als «Einfrau-Orchester». Irene Brügger alias Frölein Da Capo verkörpert Sandras nüchterne, reservierte Art authentisch charmant. Während sie ihren bescheidenen Tango probt, schwelgt Benno in Beethovens pompöser Neunter Sinfonie. Dieser Gegensatz ist Brennstoff für Sticheleien und gleichzeitig unsichtbares Band zwischen den beiden. Denn auch Benno, ein gescheiterter Dirigent, träumt heimlich davon, für die Musik auf der Bühne zu stehen. Dass Sandra und Benno früher oder später zueinander finden, ist also vorprogrammiert. Wie dies aber geschieht – diese Frage beantwortet Regisseur Peter Luisi erfrischend unkonventionell.
Die unausgesprochene Hassliebe zwischen Benno und Sandra wird anfänglich eindimensional erzählt. Als die beiden zunehmend von gemeinsamen Träumen heimgesucht werden, öffnet sich eine zweite Ebene im Film. Weil Benno auf diese Träume selbst Einfluss nehmen kann, verschwimmt die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion zunehmend. In der Realität verliert Benno mittlerweile Sand in rauhen Mengen. Fabian Krüger spielt diesen Zerfall überzeugend verzweifelt. Benno wird immer schlaksiger, sein Haar schütterer und zerzauster, sogar die schnöde, aufgeblasene Attitüde weicht ein wenig auf. Andere Figuren wirken ernüchternd stereotyp. Bennos Mitarbeiter in der Philatelie zum Beispiel ist ein brilletragender Nerd, der gierig jede Briefmarke beäugt und sich ziemlich dümmlich gibt. Hin und wieder entlarvt Luisi aber auch ein Klischee: Der TV-Wahrsager Dimitri beispielsweise, eine Mike-Shiva-Parodie mit plumpem russischem Akzent, heisst in Wirklichkeit Hanspeter und spricht «Züridütsch».
Das absehbare Happy-End des Films wird bis zum letzten Moment hinausgezögert. Lange will Benno die Lösung für sein Problem nicht wahrhaben, und auch Fachpersonen wissen keinen brauchbaren Rat. Bennos Psychiater tut die Geschichte um den “Sandmann” als «schöne Metapher» ab – der Film begibt sich in diesem Moment selbstironisch auf eine Metaebene. Der Sand als Metapher – aber wofür? Will uns Peter Luisi mit seinem Film sagen, dass man weder sich selbst noch die eigenen Träume verleugnen soll? Will er uns zeigen, dass schlussendlich alles einen Sinn ergibt und unser Leben
einem höheren Plan folgt? Oder geht es um die Kraft der Liebe und der Musik? Man spürt, dass hinter der Geschichte – wie es sich für ein Märchen gehört – eine Moral steckt. Aber glücklicherweise gibt Luisis Film auf die aufgeworfenen Fragen keine abschliessenden Antworten.