Wir befinden uns im Hinterland der Ozark Mountains im Süden des US-Staates Missouri. Eine düstere Einöde, in der die Zeit irgendwann, vielleicht im neunzehnten Jahrhundert, stehengeblieben zu sein scheint. Heruntergekommene Höfe, auf denen sich der Unrat stapelt, verhärmte Menschen, die Fremden mit Misstrauen und Hass begegnen. Trotz des Eindrucks der Trostlosigkeit, der durch den kalten, grauen Wintertag, an dem die Handlung beginnt, noch verstärkt wird, gibt es hier Anzeichen der Zivilisation: Die Menschen fahren Pickups und halten moderne Gewehre in den Händen, Fernseher und Kühlschränke verweisen darauf, dass auch in diesen Winkel der Welt Elektrizität verlegt wurde. Hier, in dieser hermetischen, fast schon klaustrophobischen Abgeschiedenheit, muss sich die siebzehnjährige Ree um ihren zwölfjährigen Bruder Sonny und die kleine Ashlee kümmern. Denn die Mutter ist psychisch krank und dämmert im Sessel sitzend vor sich hin, und der Vater Jessup, wegen Drogenvergehen verurteilt und gegen Kaution auf freiem Fuss, treibt sich irgendwo herum. Schlimmer noch: Er hat einen Gerichtstermin platzen lassen, und Sheriff Baskin informiert Ree darüber, dass Jessup das Haus der Familie samt Grundstück als Sicherheit für die Kaution verpfändet hat. Im Klartext: Sollte Jessup nicht innerhalb einer Woche wieder auftauchen, müsste die Familie das Haus räumen. «Ich werde ihn finden», sagt Ree mit finsterer Entschlossenheit.
Eine Entschlossenheit, der Jennifer Lawrence – zur Drehzeit neunzehn Jahre alt – überzeugend Ausdruck verleiht. Debra Granik und ihre Co-Autorin Anne Rosellini haben Lawrence knallharte und lebensweise Dialoge auf den Leib geschrieben, die in ihrer Lakonie gelegentlich die Grenze zum Humor streifen (basierend auf dem Roman von Daniel Woodrell). Lawrence ist das Zentrum des Films: wütend, aber ruhig, anklagend, aber nicht drohend, gezwungen, anderen zu vertrauen, und doch stolz genug, um nicht zu bitten oder zu weinen.
«Bitte nie um etwas, das dir zusteht», rät sie ihrem Bruder, und zuweilen fragt man sich, woher diese Bitterkeit kommt. Ree ist eine starke, junge Frau, die sich nichts gefallen lässt und ihr Vorhaben nicht aus den Augen verliert. Winter’s Bone ist konsequent aus jener weiblichen Perspektive erzählt, die schon Graniks Vorgängerfilm Down to The Bone (2004) prägte. «Ich sehe sie als Löwin, die ihren Stolz bewahren möchte», so die Regisseurin über ihre Hauptfigur. Lawrence überrascht trotz ihrer Jugend durch eine ebenso wilde wie abgeklärte Darstellung. Sie macht aus Winter’s Bone ein unvergessliches, aufrüttelndes Kinoerlebnis. US-Kritiker hat sie darum an die junge Jodie Foster erinnert. Nicht von ungefähr ist sie inzwischen als handlungstragender Star des neuen, bereits abgedrehten Jodie-Foster-Films The Beaver angekündigt.
Winter’s Bone ist die Geschichte einer Suche oder – ganz klassisch nach Homer – einer Odyssee. Ree wird unangenehme Wahrheiten erfahren, aufgehalten oder vom Weg abkommen, sie wird bedroht, gequält und geschlagen. Jedermann wusste, dass Jessup in einem provisorischen Labor Methamphetamine aufkochte. Eine moderne Form des Schwarzbrennens, doch ohne dessen verklärende Romantik. Denn Drogen herzustellen und zu verkaufen, ist ein gefährliches Metier, das Jessup über den Kopf gewachsen ist. Ree stösst bei ihrer Suche auf eine fast schon sizilianische Omertá. Niemand will mit ihr sprechen, zumal das gesprochene Wort – das verdeutlichen die knappen Dialoge – kein Vertrauen verdient hat. Ihr Onkel Teardrop ist selbst drogensüchtig. John Hawkes interpretiert ihn brillant als menschliches Wrack, bei dem noch verschüttete Zärtlichkeit durchscheint. Doch kann er sich nicht gegen die ungeschriebenen Gesetze der Ozarks wehren.
Die Verhärmtheit der Menschen in den Ozark Mountains, ihre Gefühlskälte und ihr Misstrauen, das gleichzeitig Ursache für ihre Isolation ist, erinnert an John Boormans Deliverance (1971) und Walter Hills Southern Comfort (1981). In beiden Filmen ging es vor allem um den Zusammenprall von grossstädtischer Überheblichkeit beziehungsweise Borniertheit des Militärs mit Bewohnern ländlicher Gegenden, die oftmals als “Hinterwäldler” diffamiert werden. Die Natur fungiert dabei, egal ob urwaldähnliches Flussgebiet oder unwegsame Sümpfe, als Metapher für Enge und Unübersichtlichkeit. Das ist in Winter’s Bone nicht anders. Michael McDonough hat mit einer hochauflösenden «Red One»Digitalkamera die Landschaft mit einem halbdokumentarischen Realismus eingefangen (gedreht wurde an Originalschauplätzen in den Ozarks). Hier scheint überall Gefahr zu lauern.
Passend zu Graniks Erzählperspektive wird eine Frau zu Rees Nemesis. Merab, Haushälterin und rechte Hand von Thump Milton, der in diesem Distrikt die Fäden in der Hand hält, zieht alle Register, von unhöflich und abweisend über drohend und gemein bis zu hinterlistig und brutal, um Thump vor dem neugierigen Mädchen abzuschotten. In der beklemmendsten Szene des Films richten Merab und ihre Schwestern Ree übel zu und verschonen ihr Leben nur knapp. Gewalt, Unbarmherzigkeit und Gewissenlosigkeit bedeuten in diesem Umfeld Schutz und Überleben. Ein Gesetz, das sich vor allem die Frauen zu eigen machen. Sie sind den Männern überlegen und übernehmen, einem Matriarchat gleich, deren Funktionen. Darum wird es am Ende des Films auch Merab sein, die für Rees Problem eine Lösung findet. Dem Mädchen steht eine letzte Prüfung bevor.