Das Atelier von Thomas Imbach an der Hohlstrasse in Zürich hat eine einzigartige Lage: direkt am Gleisfeld des Hauptbahnhofs, im Weichbild des früheren Industriequartiers mit Schuppen, Lagerhallen, Viadukten und dem Hochkamin der KVA Josefstrasse, die ihre grauweisse Fahne Tag und Nacht gegen weite helle Himmel, stumpfes Schneetreiben und rasende Gewitterwolken, gegen städtisches Feuerwerk und Vollmond verteidigt. Die Lichtbänder der Doppelstockzüge durcheilen das Bild in der Dämmerung wie Spielzeugeisenbahnen, gegen den Waidberg hin hängen die Airbusse schwer in der Luft, wenn sie den nahen Flughafen ansteuern. Und nach dem Start pfeilen sie mitten durch die Kaminsilhouette, dass es einen kurz friert.
So reich und assoziativ präsentiert sich dieses Stück Zürich West aus dem Fenster, nachdem der Filmer dort seit 1994 seine 35mm-Kamera aufgestellt und registriert hat, was geschieht. Manchmal burlesk im Zeitraffer, manchmal (in der Kamera) genüsslich verlangsamt, wenn er das Auge nicht lassen kann von der langbeinigen Schönheit eines benachbarten Büros, die Morgen für Morgen die Post abholen geht. Jahre vergehen, und mit ihnen die Filmzeit des aus zwölf Stunden Material verdichteten Films. Eines Tages macht der Prime Tower, dieser solitäre Glasdaumen von Zürichs Metropolendrang, dem Kamin die Show streitig. Wir sind im Heute. Day is Done steht in der Tradition der Stadtfilme, nur dass der Film nicht selber hinausgeht zum Synchronerleben der Stadt. Die Stadt kommt zu ihm.
Wo ist der Filmer? Er ist da. Manchmal huscht sein Haar vor die Linse, das Bild wird zurechtgezuckelt, wenn der Himmel wieder besonders schön leuchtet, wenn unten auf der Strasse Autos angezündet werden, stramme Bläser den Sechseläutenmarsch proben und ein zu waghalsiger Motofahrer mit der Ambulanz abtransportiert wird. Aber eigentlich ist er nicht da, ist nie da, weil ständig nur sein Telefonbeantworter piepst und zu uns plaudert, flötet und flirtet, fragt, klagt, beklagt – in Schlaufen und stockend, so, wie wir eben auf diese Dinger reden. Freunde, Journalistinnen, Arbeitskollegen, TV-Anstalten, die Ex, diverse neue Hoffnungsträgerinnen (inklusive spätere Ernüchterung), der Bub, die Neue, Schauspieler, mahnende Schuldeintreiber suchen den Kontakt.
Aus den Äusserungen und Repliken auf Band merken wir, dass der hier angesprochene Thomas durchaus nicht der Hagestolz ist, der sich der Welt verweigert. Der Film tut bloss so, was manchmal etwas geziert Komisches, aber auch latent Melancholisches an sich hat und vor allem auch kein schmeichelhaftes Licht auf ihn wirft. Dafür überlässt er unserer nach Geschichten gierenden Phantasie den Raum, und «Thomas» wird auch zu einer Fiktion, einer spielerischen. Der Abwesende ist sehr gegenwärtig! Imbach selber nennt seinen Film eine «fiktive Autobiografie», was ans Tautologische grenzt.
Der Anrufbeantworter also: Zwischen 1988 und 2003, als das SMS zu unserem ersten Kommunikationsmittel avancierte, hat Thomas Imbach die Kassetten gesammelt; mit über 5000 Anrufen. Aus dem Nirgendwo reden sie nun im Film verstreut in die Bilder vor dem Fenster herein. Sie reissen Geschichten an, von der Trennung, von der Geburt, dem Ärger der Mutter vor den vernachlässigten Vaterpflichten, von Filmpreisen und Fördergremien, von der Liebe und der Sehnsucht des Buben, vom Tod des eigenen Vaters. Es sind teils sehr persönliche Geschichten, nament ich von der Agonie der Kleinfamilie, wenn die Mutter des Kindes immer deprimierter und auch zorniger ins Leere redet, aber die Szenen sind universell und spinnen sich sofort in unsere eigenen Erfahrungen hinein.
Vor allem aber verspinnen sie sich mit den Bildern vor dem Fenster zu etwas betörend schönem Neuem. Thomas Imbach ist als Filmer auch hier wieder der eigenwillige, faszinierende Kompositeur, als der er uns seinen Blick auf die Welt präsentiert – früher oft im Stakkato des heutigen Lebensrhythmus, hier nun im Ganzen besinnlich, unaufgeregt dicht im Strom der vergehenden Zeit. Dabei sind die Nachrichten aus der Telefonleitung und die spektakulären Stimmungsbilder vor dem Fenster nicht illustrativ synchron montiert. Und dennoch verweben sie sich beim Schauen in leisen und starken Assoziationen.
Wenn erst ein Freund sich nach «Thomas’» erkranktem Vater erkundigt und dieser selber etwas später sachlich von seinen ChemotherapieResultaten aufs Band spricht, färbt dies die folgende Bildmontage sozusagen anders ein, überschattet sie unmerklich – den schönen Abendhimmel, das landende Flugzeug, das rauchende Kamin … bis dann in der Tat eine Stimme nur noch das Datum der Urnenbeisetzung mitteilt. Doch viel zu explizit ist solche Beschreibung gegenüber der musikalischen Meisterschaft, mit welcher der Film unmerklich unsere Wahrnehmung assoziativ in Gang hält.
Explizite Musik ist der dritte wichtige Assoziationsträger des Films, zwölf Stücke in der WriterSongwriter-Tradition, etwa Dylan, von Balz Bachmann und dem Sänger und Gitarristen George Vaine als Coverversion neu eingespielt. Sie grundiert atmosphärisch stark und spielt sich manchmal mit ihren Songtexten auch in den Vordergrund; Kamera und Montage nehmen das Spiel vielleicht auf, vielleicht auch nicht.
Thomas Imbach spielt in seiner «fiktiven Autobiografie» mit uns, mit sich und seinem realen Stoff. Wo es um seine Nächsten geht, spielt er aber sehr ernst, mit dem perspektivisch nicht lupenreinen Effekt, dass der Film Ausflüge weg vom Fenster unternimmt: zur Mutter nach Luzern, zu Familienfilmschnipseln mit ihm und Noah, dem Kind, das keine Fiktion, sondern nur ganz es selber ist, sowie mit Noah und «Monika», seiner Mutter. Deren in jeder Silbe hörbares Leid am Scheitern der Beziehung wird im Film mehr und mehr auch als «T»s stummes Leid «hörbar». Ob man in der allerletzten Einstellung, die sie zusammen mit dem nun halbwüchsigen Noah fröhlich lachend zeigt, so vielleicht fast die ersehnte Erlösung für Thomas Imbach selber lesen darf?