Man sieht auf Adolf Dietrichs Bildern kaum viel Aufregenderes als die Menschen aus seiner Umgebung, das Dorf mit dem See und den Rebbergen, die Wiesen und Wälder und die übrige Landschaft ringsum; er malte Pflanzen und Bäume, Kakteen und Früchte, am häufigsten aber Hunde, Füchse, Eichhörnchen, Vögel, Enten und Fische. Von Kitsch wollten die gestrengen Herren Fachkritiker nicht eigentlich sprechen, weshalb sie vorzugsweise Dietrich als Heimat-, seltener als Natur- oder naiven Maler abtaten oder verunglimpften, und verschiedentlich war bei ihnen auch, mit einem Holzfällerurteil, von Holzfällerkunst die Rede.
Die Nähe der Moderne
Am ehesten war er wohl so etwas wie ein Hintersasse, ein Hausknecht, ein Prolet vom Land ohne Bildung und Chance, aber mit einem unbestreitbaren Talent für die getreue Wiedergabe der Wirklichkeit. Ein Mann ohne Selbstvertrauen und Ehrgeiz, nicht frei von autistischen Zügen, aber begabt mit einem wachen, scharfen Auge für das scheinbar idyllische Leben im Dorf, jedoch auch bedrückt von der furchtbaren Ahnung, die Herrlichkeit könnte von begrenzter Dauer sein.
Er war kein Akademiker, folgte keiner Richtung, verstand wenig vom Geschäft und nichts von der Welt. Selten ist er zu seinem Dorf hinaus und kaum je weiter als nach Deutschland gekommen, auf das er von Berlingen am Untersee aus hinüberblicken konnte. Reisen nach Zürich oder Mannheim, wo seine Bilder ausgestellt wurden, brachten ihn selten genug aus dem Häuschen.
Mittels seiner Bilder bezeugte er eine entschwundene bäuerlich-naturnahe Lebensart, die bis dahin Jahrhunderte ohne grosse Veränderungen überdauert hatte. 1957 starb er fast achtzigjährig. Heute haben die meisten Lebenden von jener Welt bestenfalls noch Kindheitserinnerungen. In Berlingen sitzen sie im Altersheim, denn zu einem solchen ist das Dorf mittlerweile geworden.
Die Modeme hat ihn schonend übergangen, doch spürte er ihre Nähe, mit ihren Geschäften und Kriegen, ihren Moden und Künsten. Er hat alles in seine Bilder hineingemalt, die Liebe zur kleinen Welt und die Angst um ihr Bestehen. Seine Porträts zeigen Menschentypen aus jenem überblickbaren Kosmos – Kinder, Mädchen, Frauen, Bürger –, die aber intuitiv auch als einzelne herausgegriffen und umrissen sind. Im Unterschied zum Kitsch beginnt Kunst vermutlich auch dort, wo alles Dargestellte mehr als einen Sinn und Bezug gewinnt und gemischte Gefühle erzeugt. Dietrich zeigte nicht, wie niedlich alles in und um Berlingen war, sondern wie verzweifelt er wünschte, alles könnte so niedlich sein und bleiben.
Nie ein schmutziger Gedanke
Friedrich Kappeler, der nun einen langen dokumentarischen Adolf Dietrich gedreht hat, entstammt selber der thurgauischen Provinz, und gerade auch durch Filme wie diesen bleibt der Autor von Stolz oder die Rückkehr, Der schöne Augenblick und Wald dem Land gern verbunden. Geläufige Künstlerporträts, an denen es hierzulande nie gefehlt hat, führen das Malen, den Maler und das Gemalte vor. Schon blass, weil Dietrich keine Person des öffentlichen Lebens war und nur noch auf einzelnen Gemälden, Photos und Amateurfilmen abgebildet ist, musste Kappeler von Anfang an, sehr zu seinem Glück, weniger beschreiben und mehr interpretieren. Nicht die Kunst selber, sondern was sich in ihr erhalten hat, galt es zu filmen – und nicht den ohnehin schon toten Künstler, sondern das, was er den Nachfahren zu sagen hat. Uns Heutigen bedeutet er einiges mehr als den allermeisten seiner Zeitgenossen.
Unaufdringlich, aber nachhaltig arbeitet Kappeler auch das Urschweizerische bei jemandem wie Dietrich heraus, und so sieht sich einmal mehr – und wie immer nicht von ungefähr – einer unserer Filmautoren von der eminent helvetischen Figur eines begabten Sonderlings und verkannten Aussenseiters angezogen. Wer sich schliesslich in unserm Land aufs Filmemachen verlegt, kann sich noch bald einmal vorkommen wie Dietrich, dem man zeit seines Lebens bestimmt vorgerechnet hat, Kunst sei etwas Unschädliches, aber auch Unnötiges und dementsprechend brotlos.
Auf unerwartete Weise, besonders auch mit Humor und Musik, bringt es der Film zuwege, noch einmal das verträumte Berlingen des Adolf Dietrich aufleben zu lassen und mit dem Dorf auch ein wenig ihn selber. Manche leben noch, die ihm Modell gesessen sind, doch scheint ihn – sozusagen in Übereinstimmung mit den Kunstrichtern, die ihn verurteilten – fast keiner wirklich gekannt, kaum jemand völlig ernstgenommen zu haben. Man sah ihn offensichtlich am ehesten als immer lustigen Clown und harmlosen Hanswurst, um nicht von gehobenem Dorftrottel zu sprechen. Nein, nie ein schmutziger Gedanke sei da bei ihm gewesen, versichert die schöne Eisa vom Untersee, die er aus evidenter Schwäche für weiblichen Liebreiz gemalt hat. Einer Frau, meint das Modell, sei der Adolf wahrscheinlich nie auch nur nahegekommen.
Genial war er tatsächlich, wenn auch auf seine sehr eigene Weise, doch hat er oft in seinem Leben trotzdem, ach Helvetia, Pinsel und Leinwand nicht zu bezahlen vermocht.