Prélude. Musik ist Trumpf – Die Hazy Osterwald Story, Franz Josef Gottlieb, 1961
Was ist ein Musikfilm? Ein Film mit Musik? Oder eher ein Film über Musik? Ein Film über Musiker? Oder eher ein Film mit Musikern? In jedem Fall: laufende Bilder, gepaart mit Klängen, Tönen, Melodien. Denn eines ist sicher: dass Film und Musik zusammengehören – und zwar seit die Bilder laufen lernten. Sicher ist auch, dass das Thema Musikfilm gegenwärtig spannender ist denn je – insbesondere auch in Bezug auf den Schweizer Film. In den letzten zwei Jahrzehnten sind auffällig viele Filme über Schweizer Musik und Schweizer Musiker entstanden, aber auch Musikfilme von Schweizern gedreht worden. Das ist, global betrachtet, die logische Folge rasanter technischer Entwicklungen und zugleich auch Ausdruck eines Zeitgeist-Phänomens: das Aufkommen elektronischer und digitaler Medien und ihre zunehmend handlichere Handhabung haben die Verbreitung und den Konsum von Musik und Film angekurbelt, was auch die Auseinandersetzung mit Musik und Film stark verändert hat. National betrachtet aber liegt der Fall doch noch ein klein wenig anders. Da gibt es anno 1993 zwar keinen Urknall, aber einen Film von Cyrill Schläpfer mit dem wunderbar bedeutungsschwangeren Titel Ur-musig, der wenn zwar nicht mit Pauken und Trompeten, so doch mit Alphorn, Büchel, Treicheln, Schellen, Jodel und Juchzern eine neue Ära des Schweizer Musikfilms einläutet.
Es ist selbstverständlich nicht so, dass es vor Ur-Musig keine Schweizer Musikfilme gab und in Schweizer Filmen nicht auch gesungen und musiziert wurde. Wer Archive und Annalen durchstöbert, stösst auf köstliche Trouvaillen wie Franz Josef Gottliebs Die Hazy Osterwald Story, der anachronistisch in der gerade voll den Blues blasenden Schweizer Kinolandschaft steht. «In Zürich wird wieder gefilmt», titelt anlässlich der Dreharbeiten am 21. April 1961 die «Zürcher Woche». Und moniert lautstark, dass die Schweiz «bald das einzige Land der Welt» sei, das «infolge des immer noch nicht unter Dach gebrachten Filmgesetzes der Spielfilmproduktion keinerlei staatliche Unterstützung angedeihen» liesse. Dann lobt der Artikel die Gewitztheit, mit welcher die Urania-Filmproduktion Zürich unter Leitung von Erwin C. Dietrich ausländisch co-produziert, und verkündet frohlockend, dass nun «mit den Dreharbeiten zum ersten schweizerischen Musikfilm in Farben» begonnen wurde. Als fünf Monate später Die Hazy Osterwald Story ins Kino kommt, hebt auch das Aargauer Volksblatt vorerst Dietrichs 1,5 Millionen Schweizer Franken starkes Engagement hervor. Der Autor ist sich sicher, dass «dieser grosse schweizerische Musik-, Farben- und Unterhaltungsfilm den ersten Schritt der einheimischen Filmproduktion auf dem Weg des Musikfilms darstellt». Erzählt wird in Die Hazy Osterwald Story die «Lebensgeschichte «unseres» Hazy und der Aufstieg des heute unbestritten bekanntesten Schweizer Unterhaltungsorchesters» (nochmals «Zürcher Woche»). International lässt sich Gottliebs Film in eine in den fünfziger Jahren angerollte Welle von Musiker-Biographien eingliedern, deren Titel unisono auf «Story» enden, eben: The Benny Goodman Story (Valentin Davis, 1955), The Glenn Miller Story (Anthony Mann, 1953) und Die Kurt Widmann-Story (aka Musik im Blut, Erik Ode, 1955). Im Unterschied zu den eben Erwähnten aber entsteht Die Hazy Osterwald Story noch zu Lebzeiten ihres Protagonisten, und Hazy Osterwald verkörpert sich in Gottliebs Film denn auch gleich selber. Das allerdings führt zu etwelchen Irritationen: die ungeheuerliche Mischung von Fiktivem mit Quasi-Dokumentarischem bereitet kurz vor der Wiedergeburt des Schweizerfilms als Neuer Schweizer Film den Kritikern, die ihr Auge am Alten Schweizerfilm erprobt haben, ziemliche Mühe.
Interlude 1. Das Lied – Füsilier Wipf, Leopold Lindtberg / Hermann Haller, 1938; Beresina, Daniel Schmid, 1999; I Was a Swiss Banker, Thomas Imbach, 2007
Blendet man in der Geschichte des Schweizer Films noch weiter zurück, klingen einem aus dem guten Alten Schweizerfilm – aus Werken wie Füsilier Wipf, die letzte Chance (Leopold Lindtberg, 1944/1945) oder Gilberte de Courgenay (Franz Schnyder, 1941) – einzelne Szenen entgegen, in denen Schweizerinnen und Schweizer frohgemut musizieren und singen. Das wirkt aus heutiger Sicht ungemein munter. De facto aber steckte Politik dahinter: Wie sehr der Film durch die Verwendung von Volksliedern der Geistigen Landesverteidigung zudiente, kann sehr schön am Beispiel eines von August Kern 1941 gedrehten Films gezeigt werden. Erzählt wird, wie ein tessinstämmiger Zürcher Marroni-Verkäufer mit drei aus verschiedenen Landesteilen stammenden arbeitslosen Kollegen in das Tessin zieht und da ein verfallenes Bergdorf wieder aufbaut. «Helden der Arbeit» hätte Kerns Film erst heissen sollen, später «I millioni del marronaio». Er hätte als eine Art Fortsetzung von S’Margritli und d’Soldate (August Kern, 1940/41) erzählen sollen, was nach der Demobilmachung aus den strammen Wehrdienstlern geworden ist. Doch vor dem Hintergrund der Anbauschlacht veränderte man die Story und peppte den Film mit folkloristischen Einlagen und Gags auf. Eingedenk des Erfolgs von Gilberte de Courgenay, überschrieb man ihn mit dem Titel eines Volksliedes. Dass Al canto del cucú dann trotz allem nicht den gewünschten Erfolg erzielte, sondern, fälschlicherweise als «erster Film aus «unserer Sonnenstube» Tessin» beworben, einen Streit zwischen Verleiher und «Pro Ticino» heraufbeschwor, steht auf einem anderen Blatt.
(Bild: Die Hazy Osterwald Story)
In den fünfziger und sechziger Jahren wird im Schweizer Film munter weitergesungen. Kurt Früh legt seinen Protagonisten – erinnert sei nur an Bäckerei Zürrer (1957), Der zweiundvierzigste Himmel (1962) und Dällebach Kari (1970) – immer wieder Lieder in den Mund. Und selbst wenn Fredi M. Murer heute betont, dass die Regisseure des Neuen Schweizer Films, um sich von ihren Vorgängern abzugrenzen, ihre Protagonisten eigentlich nicht singen lassen konnten, schlängelt sich die Geschichte des Liedes im Schweizer Film auch durch die siebziger, achtziger und neunziger Jahre bis heute weiter. Bereits 1974, und damit zehn Jahre vor seiner wunderschön-rührseligen Opernsänger-Residenz-Dokumentation Il bacio di Tosca stellt Daniel Schmid mit La paloma einen dank der «Force d’imagination» exakt einen Lidschlag beziehungsweise einen Song lang dauernden Film vor. Fünfundzwanzig Jahre später lässt er in Beresina oder die letzten Tage der Schweiz das von Yelana Panova gespielte russische Hürchen Irina, um die Herzen einiger strammer Schweizer für sich zu gewinnen, mit neckischem Akzent «Über de Gotthard flügid Bräme» singen. Auch Clemens Klopfenstein ist – zumindest in seinen frühen, mit der jodelnden Schauspielerin und Rockpoetin Christine Lauterburg und derem damaligen Lebenspartner Max Rüdlinger gedrehten Filmen – dem Gesang nicht abhold. Nebst dem, dass in Der Ruf der Sybilla (1982/1985) verschiedene Schlager anklingen, findet sich in Macao (1988) eine nach «World Music» transponierte Version des «Wintersong» aus Akira Kurosawas Ikiru. Aber auch die Dokumentaristen kommen um Lied und Gesang nicht herum. 1974 wird in Yves Yersins Die letzten Heimposamenter während der Fahrt im Postauto munter gesungen, und in Murers im gleichen Jahr gedrehten Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind findet sich einer der ersten Betrufe im Schweizer Film.
In jüngster Zeit ist das Lied im Schweizer Film regelrecht auf dem Vormarsch. In Markus Fischers alpinem Mystery-Thriller Marmorera (2007) etwa funktioniert Schuberts Fischer-Lied als magisches Verbindungsglied zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Real- und Gespensterwelt. Thomas Imbach lässt die Protagonisten sowohl in seiner 2006 entstandenen Büchner-Verfilmung Lenz wie auch in seiner 2007 gestarteten Recherche d’amour I was a Swiss Banker ihre Gefühle mit Liedern ausdrücken; ähnlich wie in Schmids Beresina ist es auch in I was a Swiss Banker eine Ausländerin, die – um das Herz eines Schweizers zu erobern – mit neckischem Akzent eine Schweizer Volksweise anstimmt. Und just in diesen Tagen kommt mit Felice Zenonis O mein Papa ein Porträt des Schweizer Gassenhauer-, Schlager-, Film- und Bühnenmusikkomponisten Paul Burkhard ins Kino – auch die Geschichte des (Volks-) Liedes, Schlagers, Popsongs im Schweizer Film wäre bei Gelegenheit zu schreiben.
Ouvertüre. Das leise Erklingen der Alpen – Ur-Musig, Cyrill Schläpfer, 1993
Auf schwingt sich die Kamera. Fliegt, begleitet vom sanften Sausen des Windes und dem leisen Summen menschlicher Stimmen, über Gipfel und Grate, Schluchten und Täler, gleitet trutzigen Felswänden, glitzernden Seen entlang und senkt sich dann nieder in die herb-liebliche Landschaft der Schweizer Alpen. Es liegt Schnee, es klingen Schellen, es knirschen Schritte. In Urnäsch feiert man den «Alten Silvester»: in urchigen Laub-, Reisig- und Fellkostümen, in zum Teil wahrlich furchterregenden Masken, ziehen die Kläuse von Hof zu Hof. Sie scheinen aus der Zeit gefallen, gemahnen an Figuren und Gestalten aus alten Märchen und Sagen und singen urtümlich anmutende, wortlose Lieder. «ur-musig», schreibt Cyrill Schläpfer, sei eine«Reise durch die zum Teil noch archaischen Klanglandschaften der Innerschweiz und des Appenzellerlandes».
(Bild: Ur-Musig)
In Begleitung einiger der besten Kameraleute der Schweiz – unter anderen Pio Corradi und Jürg Hassler – geht Schläpfer von 1989 bis 1993 mit Kamera und Mikrofon in der Innerschweiz und im Appenzell auf Sammeltour. Über achtzig Stunden Tonmaterial und sechzehn Stunden belichteten Film trägt er zusammen und fertigt daraus zwei CDs sowie einen knapp zweistündigen Dolby-Stereo-Film – vermutlich den ersten voll digitalisierten der Schweiz. Lose dem Lauf der Jahreszeiten folgend, verknüpft Ur-Musig Momente des bäurischen Lebens mit bildschön-bedächtigen Aufnahmen von Landschaften, die von der Moderne seltsam unberührt scheinen, dazu fügen sich Aufnahmen von singenden und musizierenden Menschen. Schläpfer wollte Bild und Ton gleichwertig nebeneinanderstellen, und das ist ihm – zumindest teilweise – gelungen: Ur-Musig lebt über weite Strecken vom Zusammenwirken von Bildern und Tönen, die voneinander unabhängig aufgenommen wurden, beziehungsweise von der Einbettung der vor allem vokalen Musikstücke – Jodelgesänge, Betrufe, Alpsegen, Jüüzli, Zäuerli, Löckler – in die Landschaft, den bäuerlichen Alltag und das (noch) gelebte Brauchtum. Kommentarlos kommt Ur-Musig daher, driftet gegen Ende in eine Art Loop und wirkt phasenweise wie eine Ton-Bild-Installation.
Aus heutiger Sicht wirkt Ur-Musig – vom Regisseur mit «Respekt den traditionellen Musikern, den naturverbundenen Berglern und den sturen, querstehenden Grinden aus dem Appenzell, dem Muotatal und der Innerschweiz» gewidmet – roh wie ein ungeschliffener Diamant und muss als Meilenstein der Schweizer Musikfilmgeschichte gesehen werden. Ur-Musig steht nicht nur am Anfang einer ganzen Reihe von Filmen über Schweizer Musik und Musiker, sondern markiert auch den Auftakt zu einer in den letzten Jahren – auch im Film – intensiv betriebenen Auseinandersetzung mit der traditionellen Musik der Schweiz. Wenn als Musikfilm nur der Film definiert wird, bei dem aus dem Konglomerat von gleich gewertetem Bild und Ton (Musik) etwas neues Drittes entsteht, ist Ur-Musig wohl der erste Schweizer Musikfilm, der sich frei von Berührungsängsten und mit gesunder Neugier mit der traditionellen Musik der Schweiz auseinandersetzt.
Variation. Worldmusic (made) in Switzerland – L’école de flamenco / flamenco vivo, Reni Mertens, Walter Marti, 1985; Step Across the Border, Nicolas Humbert, Werner Penzel, 1990
Ur-Musig als den ersten Schweizer Musikfilm, der sich mit der traditionellen Musik der Schweiz auseinandersetzt, zu bezeichnen ist bloss teilweise richtig. In den Achtzigern nämlich, als der in den sechziger Jahren geborene Neue Schweizer Film so ganz jung nicht mehr war, durchlebt Helvetiens Filmschaffen, insbesondere und in Hinsicht auf die (nicht nur Schweizer) Musikfilme, einen Aufbruch. Es ist die Zeit, in der in Europa der Begriff «Weltmusik» geboren wird. Die ersten Schweizer Openair-Festivals wie das Gurten-Festival und das Openair St. Gallen (beide gegründet 1977) durchleben ihre Kinderjahre. 1971 hat auf der Lenzburg das erste Schweizer Folkfestival stattgefunden, noch älter ist das 1967 gegründete Jazz-Festival Montreux. Über die nationalen wie internationalen Leinwände flimmern Carlos Sauras Tanzfilme Bodas de sangre (1981), Carmen (1983) und El amor brujo (1986). Hollywood, aber auch das American Independent Cinema und Europa huldigen in Filmen wie Bird (Clint Eastwood, 1988), Let’s Get Lost (Bruce Weber, 1989), Around Midnight (Bertrand Tavernier, 1986) und Thelonious Monk: Straight; no Chaser (Charlotte Zwerin, 1988) Jazz-Grössen wie Charlie Parker, Chet Baker, Dexter Gordon und Thelonious Monk. Es sind zum einen mit der gesunden Neugierde eines Ethnologen losziehende Dokumentarfilmer, zum anderen Regisseure mit einer genuinen Affinität zur Musik, die sich in diesen Jahren in der Schweiz an die filmische Entdeckung der Musik machen.
(Bild: Flamenco vivo)
An vorderster Front mit dabei sind die Dokumentarfilmer Reni Mertens (1918–2000) und Walter Marti (1923–1999). Sie reisen 1984 im Auftrag des NDR nach Andalusien und stellen 1985 mit Flamenco vivo (aka L’école de flamenco) einen eindrücklichen Musik- und Tanzfilm vor, der die Entwicklung des Flamenco von der einfachen, erdnahen, auf dem Land bis heute gepflegten Volkskunst zu dem in urbanen Tanzschulen und städtischen Clubs gepflegten, hoch stilisierten Tanz beschreibt. Flamenco vivo überzeugt durchseine karge Klarheit und die exzellente Bildgestaltung (Kamera: Rob Gnant) und kommt – dies ein Phänomen, das vor allem in den frühen Schweizer Musikfilmen immer wieder zu beobachten ist – in der Fernsehfassung mit spärlichem, in der Kinofassung gar ohne Kommentar aus.
«Angesagt» sind in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre in der Musikfilmszene vor allem Jazz und Weltmusik. In einem Artikel zu den Solothurner Filmtagen von 1990 erwähnt Patrik Landolt nebst mehreren Filmen, in denen Musik die Hauptrolle spielt, explizit sieben Filme, in deren Zentrum Jazzmusiker stehen. Insbesondere hebt Landolt Kick that Habit (1989) von Peter Liechti und Step Across the Border (1989) von Nicolas Humbert und Werner Penzel hervor. Step Across the Border ist ein Porträt des Engländers Fred Frith. Im Zentrum von Kick that Habit stehen die Sankt Galler Musiker Norbert Möslang und Andy Guhl. Fred Frith verkörpert den Prototyp des in den achtziger Jahren aus dem Geist der New Yorker Down-Town-Scene erstandenen Welt-Musikers; Möslang und Guhl entwickeln in den Achtzigern, aus der europäischen Free-Jazz-Szene der siebziger Jahre herauswachsend, mit ihrer «Wegwerfelektronik» eine radikale Sound- und Geräuschmusik. Beide Filme führen aber weit über das hinaus, was man gemeinhin als Musikerporträt bezeichnet. Während Liechti die Aufnahmen seiner Musiker bei der Arbeit im Atelier und die Mitschnitte von Live-Konzerten mit Fragmenten aus seinem Super-8-Filmarchiv anreichert, verbinden Humbert / Penzel die Aufnahmen von Frith assoziativ mit Aufnahmen von Zugfahrten durch die Vorstädte von New York und Tokio. Der akustische Rhythmus schwingt mit den pulsierenden Bildern. Durch diese Art der Montage entwickelt der Film einen eigenen rhythmischen Drive: eine Art «reiner» Musikfilm – selten genug anzutreffen – ist das Resultat.
Interlude 2. MTV, Viva – Dieter Meier & Boris Blank. Oder: Yello. Elektropop Made in Switzerland, Anka Schmid, 2005
Die Gründung von TV-Musik-Spartensendern wie MTV (1981) und Viva (1993) und eng damit verbunden das Aufkommen eines speziellen Typs des Musikfilms: des (Musik-)Videoclips, kann man, wenn man von Film und Musik der achtziger Jahre spricht, nicht unerwähnt lassen. Bereits Ende 1967 erscheint mit «Sgt. Pepper‘s Lonely Hearts Club Band» von den Beatles das erste Album, von dem es hiess, es sei auf der Bühne nicht aufführbar. Ergo drehte man zu dessen Promotion eine kurze «Demo», auf der sich Live-Aufnahmen der Musiker mit Stil- und Stimmungsbildern mischten. Ende Sechziger und in den Siebzigern entstehen etliche weitere solcher «Promos» und «Demos». Ende der siebziger Jahre dann strahlt das Fernsehen in den USA zweiwöchentlich Musik-Video-Shows aus, 1983 wird analog dazu in Deutschland «Formel Eins» «erfunden». Diese Sendungen sind derart erfolgreich, dass am 1. August 1981 in den USA mit MTV ein neuer Kanal auf Sendung geht, der, rund um die Uhr, frei nach dem Motto «Rock around the clock», Musikvideos sendet. Der dadurch generierte Bedarf an Musik-Videos und Video-Clips ist enorm – und wer damals mit zwei Video-Clips in vorderster Reihe mit in den Startlöchern steht sind der Zürcher Rockpoet und Avantgardefilmer Dieter Meier sowie die Sound-Tüftler und Synthesizer-Meister Boris Blank und Carlos Perron: die (1983 auf Meier / Blank reduzierte) Elektropop-Band Yello. Blank, Perron und Meier geben 1979 ihre erste Maxisingle heraus, reisen 1980 in die USA und sind da derart erfolgreich, dass sie nach kurzer Zeit einen Plattenvertrag in Händen halten. Da sich die Musik von Yello nur bedingt für Live-Aufführungen eignet, beginnt Dieter Meier, der schon früher Erfahrungen als Experimentalfilmer sammelte (108’000 units, 1969), zu den einzelnen Stücken eigene Filme zu kreieren. Und wie MTV auf Sendung geht, stehen mit The Evening is Young und Pin Ball Chacha (beide 1981) zwei Yello-Clips mit auf dem Programm. Meiers erste Musik-Videos sind Handwerk pur. Sie wurden in der heute als Konzertsaal benutzten Shedhalle der Roten Fabrik in Zürich gefilmt, in der Kamera montiert und muten (es lässt sich auf YouTube überprüfen) bis heute wunderbar avantgardistisch an. Wer sich eingehender mit Geschichte und Ästhetik des Musikvideos auseinandersetzen will, dem sei das von Cecilia Hausheer und Annette Schönholzer herausgegebene, derzeit leider vergriffene Buch: «Visueller Sound. Musikvideos zwischen Avantgarde und Populärkultur» empfohlen. Und wer sich die Geschichte von Yello in kurzweiligen fünfzig Minuten zu Gemüte führen will, ist bestens bedient mit Anka Schmids Porträt Yello. Elektropop Made in Switzerland.
(Bild: Yello. Elektropop made in Switzerland)
Menuett. Frühdämmerung – Youtser et yodler, Hugo Zemp, 1986
Doch es ist nicht nur der Jazz, es sind nicht nur Weltmusik und (Elektro-)Pop, die sich im Schweizer Film der achtziger Jahre zunehmender Beliebtheit erfreuen. Nein, ganz zaghaft und schüchtern beginnt in diesen Jahren in der Schweiz auch die filmische Auseinandersetzung mit der traditionellen einheimischen Musik. Es sind vorerst in ihrer Machart und ihren Ansätzen solide Auftragsarbeiten. Paul Riniker dreht 1986 im Auftrag des Schweizer Fernsehens ein 45-minütiges Doku-Feature mit dem Titel Juzen im Muotathal. Etwa zur gleichen Zeit entsteht die Tetralogie Jüüzli du Muotatal des Musikethnologen Hugo Zemp. Sie besteht aus dem 52-Minüter Youtser et yodler sowie den drei halb so langen Teilen Voix de tête, voix de poitrine, Les noces de Susanne et Josef und Glattalp. Amüsant nachzulesen ist in diesem Zusammenhang Hugo Zemps im Herbst 1988 in der Zeitschrift «Ethnomusicology» (Vol 32, No. 3) veröffentlichter Aufsatz «Filming Music and Looking at Music Films», in welchem der Autor anhand der eigenen Filme Regeln aufstellt, wie mit Respekt vor dem Musiker und der Musik ein ethnographischer Musikfilm denn zu drehen sei. Es finden sich in diesem Aufsatz unter anderem die Hinweise, dass ein Musikstück immer in der ganzen Länge gefilmt und ungeschnitten gezeigt werden sollte, dass ein Musikvortrag nie durch eine Voice-over-Erzählung gestört werden sollte, und dass der «Musiker wie ein Mensch und nicht wie ein Ding oder Insekt» zu filmen sei. Dass es dann allerdings nicht die filmenden Musikethnologen, sondern eher die Avantgarde-Musiker sind, die dem Ruf nach (auch filmischer) Auseinandersetzung mit der traditionellen (Volks-)Musik der Schweiz folgen, belegen Filme wie Ur-Musig und Alpenglühn.
Scherzo. Eine jodelnde Jungschauspielerin und tanzende Kälber – Alpenglühn, Silvia Horisberger / Norbert Wiedmer, 1987; Das Alphorn, Stefan Schwietert, 2003
Als 1993 Cyrill Schläpfers Ur-Musig ins Kino kommt, schreibt der Filmkritiker Franz Ulrich, dieser Film könnte «für die Auseinandersetzung mit der musikalischen Folklore eine vergleichbare Signalwirkung haben wie Kurt Martis 1967 erschienener Lyrik-Band «rosa loui. vierzig gedicht ir Berner umgangssprach» für die Mundartlyrik oder Mani Matters Lieder für das Deutschschweizer Chanson» (Zoom 9/93). Ulrichs Aussage erweist sich in der Folge als geradezu prophetisch: In den letzten fünfzehn Jahren sind nicht nur ausnehmend viele sich mit Schweizer «Folklore», das heisst mit der helvetischen Gesangs-, Klang- und Musikkultur sich beschäftigende Schweizer Filme entstanden, auch das Verhältnis der Schweizer zur einheimischen (nicht nur Volks-)Musik und die Auseinandersetzung damit hat sich generell stark verändert. Die Gründe dafür liegen zwar weniger beim Film als vielmehr in einer der helvetischen Musica alpina widerfahrenen Veränderung. Die schweizerische Alpen-Musik ist gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht, in welchen sie in Folge der zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges betriebenen Geistigen Landesverteidigung und des nachfolgenden, von konservativen Kräften betriebenen, sturen Traditionalismus gefallen war. Es ist eine junge Generation gut ausgebildeter und unvoreingenommener Musiker, die ihre ersten Sporen meist weitab der Alpenmusik, in Jazz-, Pop-, Rock- oder Avantgarde-Kreisen verdient haben, welche in den achtziger und neunziger Jahren die traditionelle Musik der Schweiz für sich neu zu entdecken beginnt. Es geht ihnen dabei oft weniger um die Entdeckung einer Exotik vor der eigenen Haustür als vielmehr um eine Rückbesinnung auf die archaischen Wurzeln des eigenen musikalischen Schaffens. Und am Rande auch um eine im Zusammenhang mit dem damals heftig diskutierten EU-Beitritt der Schweiz und der Globalisierung in der Schweiz generell zu beobachtende Rückbesinnung auf das Eigene, die Heimat. Damit durchläuft die traditionelle Schweizer Volksmusik mit quasi zwanzigjähriger Verzögerung eine Entwicklung, die der einst ebenfalls mit der Geistigen Landesverteidigung «betraute» Schweizerfilm an seinem von Frauenbewegung und Jugendunruhen geprägten Übergang vom Alten zum Neuen Schweizer Film erfuhr. Vielfältig, politisch engagiert, formal wagemutig, um nicht zu sagen: experimentell-avantgardistisch zeigt sich der Neue Schweizer Film in seinen Anfängen. Wunderbar experimentell-avantgardistisch klingt aber auch die traditionelle Schweizer Musik, wo sie sich aus ihren alten Krusten und Mustern befreit – der zum Teil harsche Grabenkampf, der zwischen den Traditionalisten und Avantgardisten geführt wird, lässt sich, zumindest den Spuren nach, in den Filmen der Nachfolgegeneration der Pioniere des Neuen Schweizer Films nachlesen. In Silvia Horisbergers und Norbert Wiedmers dokumentarischem Spielfilm Alpenglühn etwa nimmt Christine Lauterburg als vom Jodeln begeisterte Jungschauspielerin sich selber spielend an einem traditionellen Jodelfest teil. Diesem Volksbrauch stellt sie sich in Tracht und mit bravem Frisürchen – verzweifelt in der Folge allerdings beinahe an dem sich selbst aufgezwungenen Korsett und wünscht sich im Gespräch mit ihrem Freund und Lebenspartner Max Rüdlinger, irgendwo hoch oben in den Bergen zu stehen und dort jodeln zu können, wo das Echo zurückhallt. Eine etwas profundere Darstellung vom heftig wogenden Kampf bezüglich Umgang mit der traditionellen Schweizer (Volks-)Musik findet man in Stefan Schwieterts Das Alphorn.
(Bild: Mani Matter – Warum syt dir so truurig?)
In einer kurzen Spielfilmeinlage blendet Schwietert ins neunzehnte Jahrhundert zu den Anfängen des alpinen Instruments zurück, um mittels der im «Züricher Kalender aufs Jahr 1874» zu findenden Sage «Wie das Alphorn in die Welt kam» verspielt-märchenhaft die Herkunft des schweizerischen Nationalinstruments Nummer eins zu erläutern. Später wird etwas ernsthafter erklärt, dass man von der Herkunft besagten Hornes nichts Genaues wisse, dieses wohl aber früher von Hirten zum Locken und Treiben des Viehs gebraucht wurde. Flockig eingestreut finden sich in Das Alphorn weitere Anekdötchen und Histörchen. Der eigentliche Fokus des Films aber liegt auf der Auseinandersetzung zwischen Traditionalisten und Musikern, die einem freieren Umgang mit Volksmusik verbunden sind. Einander gegenübergestellt werden Folkloristen, die der Tradition anhängen und in ihrem Repertoire einzig auf den vom Eidgenössischen Jodelverband freigegebenen Kanon «echter» Alphornstücke schwören, und zeitgenössische Komponisten wie Hans-Jürg Sommer, dessen «Ranz des vaches» («Chuereihe») Schwietert ganz sinnfällig mit über die Weide tollenden Kälbern bebildert, und Avantgarde-Musiker wie der Jazzer Hans Kennel oder der Alphornvirtuose Balthasar Streiff. Als Tertium comparationis stellt Schwietert neben diese beiden Sichtweisen diejenige der helvetischen Tourismusindustrie, für die das Alphorn im Verbund mit Käse, Schokolade, Sackmesser und Swatch vor allen Dingen eins ist: Wahr- (und Waren-)zeichen der Schweiz.
Interlude 3. Fan-Movies – Mani Matter – Warum syt dir so truurig?, Friedrich Kappeler, 2002; Züriwest – am Blues vorus, Annina Furrer, 2002; Abxang, Mirjam von Arx, 2003; Blau, Stefan Kälin, Norbert Wiedmer, 2005. Aber auch: Trümpi, Iwan Schumacher, 1999; Increschantüm, Stefan Haupt, 2000
Im weiten Feld dessen, was man als Musikfilm bezeichnen kann, gibt es eine auch in der Schweiz gern und häufig gepflegte Form: das Musiker- beziehungsweise Band-Porträt. In der simpelsten Ausbildung handelt es sich um das – meist – dokumentarische Porträt einer Person, die von Beruf Musiker ist. Oft unterscheiden sich diese Musikerporträts – abgesehen davon, dass sie Mitschnitte von Konzerten (und viele Applausszenen) und genretypisch vom Porträtierten selber gespielte Musik enthalten – nur unwesentlich von Porträts anderer Menschen. Sie besitzen aber einen grossen produktionstechnischen Reiz, garantieren sie doch, zumindest da, wo es sich beim Protagonisten um eine arrivierte Persönlichkeit beziehungsweise einen Star handelt, grösseres Zuschauerinteresse. Verschiedenste Filmemacher haben in den letzten drei Jahrzehnten etliche Musiker- und Bandporträts gedreht – nicht wenig davon fürs Schweizer Fernsehen. Einige haben sich gar auf die Herstellung solcher Musikerporträts spezialisiert. Es gibt zahlreiche Porträts von Schweizer Musikern, die kaum Zuschauerzahlen machen, und andere, die an der Kinokasse erstaunliche Erfolge feiern. Es gibt Schweizer Musikerporträts, die nichts weiter als gradlinig gedrehte simple Filmporträts sind. Und es gibt andere, die, weit über die simplen Formen hinausweisend, richtig gute Musikfilme sind.
(Bild: Polo Hofer in Mani Matter – Warum syt dir so truurig?)
Zu den Filmemachern, die sich dem filmischen Musikerporträt verschrieben haben, gehören der Frankreich-Schweizer Georges Gachot und Urs Graf. Der Musikwissenschafter Gachot, der selber leidenschaftlich Klavier spielt, wirkt erst als Schauspieler bei Werbe- und Spielfilmen mit und arbeitet bei einem auf Klassik spezialisierten Plattenlabel, bis er eigene Musikerporträts zu drehen beginnt; zu seinen bekanntesten Filmen gehören Martha Argerich, Conversation nocturne, das Porträt der argentinischen Pianistin (2002), drei abendfüllende Dokumentarfilme über den Cello spielenden Kinderarzt Beat «Beatocello» Richner und dessen Engagement für einen Kinderspital in Kambodscha (Bach at the Pagoda, 1997; … and the Beat Goes on, 2000; Geld oder Blut, 2004) sowie Maria Bethânia, musica è perfume über die brasilianische Sängerin Maria Bethânia (2005).
Urs Graf dreht als Mitbegründer des Zürcher Filmkollektivs klassische engagierte Dokumentarfilme. 1993 stellt er in Zusammenarbeit mit Elisabeth Wandeler-Deck und Alfred Zimmerlin mit Die Farbe des Klangs des Bildes der Stadt einen ersten experimentellen Musikfilm vor. Seit 2002 arbeitet er an dem Projekt «Ins Unbekannte (der Musik)», einer kleinen Reihe, die anhand von Werkstattporträts dem kreativen Prozess zeitgenössischer Komponisten nachgeht. Mit Urs Peter Schneider: 36 Existenzen (2006) und Jürg Frey: Unhörbare Zeit (2007) sind bereits zwei Filme aus der Reihe entstanden, ein Porträt der Komponistin Annette Schmucki soll folgen.
Porträts von Komponisten moderner E-Musik und von Jazzmusikern sind Filme für ein kleines und exquisites Spezialpublikum. Es entstehen in der Schweiz aber auch Filmporträts von Pop- und Rockbands; erwähnt seien an dieser Stelle bloss Mirjam von Arx’ Abxang, in dem der Berner Rocker Polo Hofer porträtiert wird, sowie Annina Furrers Film über die Berner Mundartband ZüriWest (Züriwest – em Blues vorus). Beide Filme haben trotz der Popularität ihrer Protagonisten nicht wirklich gute Zuschauerzahlen (Abxang, 9394 Kinoeintritte; Züriwest, 6523 Eintritte, Juli 07, Procinema) gemacht. Paradebeispiel eines in seiner Form schlichten, aber humor- und stimmungsvollen und an der Kinokasse erfolgreichen Schweizer Musikerporträts ist Friedrich Kappelers Mani Matter – Warum syt dir so truurig? Der Filmreiht, der Chronologie von Matters Leben folgend, ein Matter-Lied ans andere wie bei einer Perlenkette. Verwandte, Bekannte und Freunde kommentieren die in voller Länge präsentierten Chansons. Franz Hohler, Matters Gattin Joy, die Matter-Interpreten Kuno Lauener, Stephan Eicher, Polo Hofer erzählen von ihren Begegnungen mit und ihren Beziehungen zum beliebten Berner Sänger oder über die Bedeutung seiner Lieder für ihr eigenes Leben. Über 146 000 Eintritte hat Kappelers Matter-Film gemacht. Damit ist er der erfolgreichste Schweizer Dokumentarfilm und belegt unter den erfolgreichsten Schweizer Filmen (Die Schweizermacher, Rolf Lyssy, 1978, 940 171 Eintritte; Mein Name ist Eugen, Michael Steiner, 2005, 577 541 Eintritte; Die Herbstzeitlosen, Bettina Oberli, 2006, 568 628 Eintritte …) Rang 12 (August 07, Procinema).
(Bild: Züriwest – em Blues vorus)
Das Gros der Schweizer Musikerfilme rekrutiert seine Protagonisten hauptsächlich aus dem breiten Horst von Jazz, Klassik und Popmusik. In den letzten Jahren haben sich aber peu à peu filmische Porträts eingestellt, in deren Zentrum Persönlichkeiten aus der (avantgardistischen) Schweizer Volksmusik-Szene stehen. So stellt Stefan Haupt 2000 mit Increschantüm ein kleines, aber feines Porträt der sich zwischen Volksmusik und Jazz bewegenden Unterengadiner Gruppe «Ils Fränzlis da Tschlin» vor. Und Iwan Schumacher dreht 1999 Trümpi, ein impressionistisches Dokumentar-Road-Movie mit und über den Innerschweizer Poeten und Maultrommelspieler Anton Bruhin, der an einer traditionellen Stubete auf dem Stoos genauso am richtigen Platz ist wie an einem Festival für Avantgarde-Musik in Tokio. Auch der Berner Norbert Wiedmer setzt sich weiterhin mit seiner Heimat, ihren Traditionen und Klängen auseinander. Zwölf Jahre nach Alpenglühn stellt er mit schlagen und abtun einen Film über das urschweizerische, bäurische Wettkampfspiel Hornussen vor. 2005 dann dreht er zusammen mit Stefan Kälin blau, das filmische Doppelporträt des Innerschweizer Troubadours Thomas Hösli und den ihn seit einigen Jahren begleitenden, aus Valencia stammenden Jazz-Pianisten Ricardo Regidor. Blau ist ein von der Poesie des Alltäglichen bisweilen unverhofft ins Experimentelle abgleitendes, grooviges Road-Movie.
Rondo. Alpenblues abroad – Accordion Tribe, Stefan Schwietert, 2004; Namibia Crossings, Peter Liechti, 2004; Gambling, Gods and LSD, Peter Mettler, 2002
Er habe, um sich mit der (Musik der) Heimat auseinandersetzen zu können, diese erst einmal verlassen müssen, hat der heute in Berlin lebende Stefan Schwietert einmal gesagt. Bis in den neunziger Jahren die ersten heimischen Filmschulen entstanden, haben die meisten Schweizer Filmemacher zumindest während ihrer Ausbildung eine kürzere oder längere Zeit im Ausland verbracht. Und einige Schweizer Filmemacher sind in der Fremde hängengeblieben. Nicht, dass sie sich deswegen nicht mit ihrer Heimat beschäftigt haben, im Gegenteil. Gerade sie setzen sich oft mit der Schweiz und der schweizerischen Befindlichkeit intensiv auseinander. Die Distanz, die sie örtlich einnehmen, scheint dieser Auseinandersetzung förderlich zu sein. Einer der eigenwilligsten helvetischen Exil-Filmemacher ist der Kanada-Schweizer Peter Mettler. Er lebt die meiste Zeit in Toronto, sein anderes Standbein hat er im Appenzellischen. Mettler ist eine Art philosophierender Film-Poet, der in seinem Schaffen die alte Heimat am Rande immer wieder streift. Er dreht nicht eigentliche Musikfilme, sondern Filme, in denen Bild und Ton (und Musik), indem sie in rhythmisierte Symbiose treten, sich der Transzendenz einer neuen Wirklichkeit öffnen. Mettlers bisheriges Opus magnum Gambling, Gods and LSD ist – wie Jean Perret es im Festivalkatalog von Visions du Réel 2002 formuliert – ein «dreistündiger Gegenwartstraum, welcher, unsichtbaren Strömen folgend, die Menschen in Toronto, Nevada, der Schweiz und Südindien quer durch die Kulturen verbindet». Die Besonderheit des Films steckt in der Montage: zur «Musik», eine Mischung aus O-Tönen, Musikaufnahmen und extra dafür kreierten Kompositionen, schneidet Mettler Bilder, so dass Bild und Ton sich gegenseitig beeinflussen und stimulieren. Gambling, Gods and LSD ist ein Trip, eine filmische Reise, ein Roadmovie. Reisen, Unterwegssein und Entdecken von Neuem und Fremdem verbindet viele – nicht nur schweizerische – Filmemacher und Musiker in einer Art Seelenverwandtschaft; nicht von ungefähr sind einige der schönsten Schweizer Musikfilme der letzten Jahre eigentliche Roadmovies. Stefan Schwietert reist – noch bevor er sich in Das Alphorn zum ersten Mal mit Musik (in) der Schweiz beschäftigt – mit dem Basler Jazzer George Gruntz und dessen Band in den Nahen Osten (Voyage oriental – the George Gruntz Concert Jazz Band in Turkey, 2000), und nach Das Alphorn begleitet er in Accordion Tribe die Mitglieder der gleichnamigen Band – den New Yorker Guy Klucevsek, den blinden Wiener Otto Lechner, die Finnin Maria Kalaniemi, den Slowenen Bratko Bibic und den Schweden Lars Holler – auf ihrer Tournee durch Europa. Aber auch Peter Liechti, der so ganz eng mit der Heimat verbundene Film-Schaffer, der in seinem schnurrigen Essay-Film Hans im Glück während dreier Fussmärsche von Zürich nach Sankt Gallen so wunderbar eloquent-verschmitzt über die eigene Befindlichkeit als Schweizer nachdenkt, hat einen seiner schönsten und dichtesten Filme, nämlich das Soundgedicht Namibia Crossings auf den Spuren zweier Schweizer Musiker in Afrika gedreht. «Hambana Sound Project» hiess das Unterfangen, an dem der Percussionist Fredy Studer und der Akkordeonist Hans Hassler zusammen mit Musikern und Sängern aus Namibia, Zimbabwe und Russland teilnahmen, das Liechti in Ton und Bild festhielt. Augenfällig an Namibia Crossings ist die Virtuosität und Präzision, mit welcher der innere Rhythmus der Bilder, der Rhythmus der Montage und der Rhythmus der Musik sich entsprechen: Unvergesslich sind Szenen wie jene, in welcher exakt im Takt der in der nächsten – ganz anderswo gedrehten – Szene bearbeiteten Trommel eine Tarantel über die staubige Strasse beinelt. Doch es sind nicht nur Spinnenbeine, die sich im Takt der Trommel bewegen, zu sehen sind auch die stampfenden Füsse der tanzenden Kinder. «Im Grunde genommen», hat Peter Liechti in einem von Ulrich Gregor geführten Interview zu Namibia Crossings gesagt, «mache ich Filme, weil ich keine Musik machen kann.» (In: Das Kino Xenix – ein Programmkino, Schüren Verlag, 2005)
(Bild: Namibia Crossings)
Interlude 4. Musik im Schweizer Film, gezeichnet und getanzt – «Les peintures animées de Georges Schwizgebel», 1974–2004; The Moebius Strip, Vincent Pluss; 2003; Contrecoup, Pascal Magnin, 1997
Es gibt zwei weitere Unterarten des Musikfilms, die im Rahmen dieses kleinen Spaziergangs durch den Schweizer Musikfilm leider nur am Rande gestreift werden können: der Tanzfilm und die Animationsfilme von Georges Schwizgebel. Der 1944 im Berner Jura geborene Schwizgebel, der heute in Carouge lebt, ist einer der weltweit berühmtesten Trickfilmer der Schweiz, der ziemlich jeden wichtigen Animationsfilm-Preis gewonnen hat, den es zu gewinnen gibt. Seine Filme – jüngst auf der DVD «Les peintures animées de Georges Schwizgebel» als Gesamtwerk erschienen – tragen Titel wie Le vol d’Icare (1974), 78 Tours (1985), L’année du Daim (1995) , Fugue (1998), L’homme sans ombre (2004). Sie sind nicht gezeichnet, sondern mit Bürste und Pinsel gemalt – Schwizgebel arbeitet ohne Computer. Es sind Acryl-Variationen auf Zelluloid, wortlose Farben-Träume, deren Bilder in sanftem Glissement ineinanderlaufen, bildhafte Umsetzung bereits bestehender oder extra komponierter Musikstücke; man könnte auch sagen: zauberhafte Mini-Musicals.
Ebenfalls in der Romandie zu Hause ist der Schweizer Tanzfilm beziehungsweise das in den siebziger Jahren geborene Tanzvideo. Zu seinen wichtigsten Schweizer Vertretern gehören der in Genf wohnhafte Neuenburger Pascal Magnin, dessen
Tanzfilm-Trilogie Pas perdus (1994), Reines d’un jour (1996) und Contrecoup (1997) seinem Macher innerhalb der internationalen Tanzfilm-Szene hohes Renommée einbrachte, sowie Vincent Pluss, der 2002 nebst seinem launigen «Doegmeli»-Film On dirait le sud mit The Moebius-Strip auch einen höchst innovativen Tanzfilm vorstellte.
Finale infinitum. Gejuchzter Jazz – Poetry in Motion, Pio Corradi, 2006; Hardcore Chambermusic, Peter Liechti, 2006; Heimatklänge, Stefan Schwietert, 2007
Auf schwingt sich die Kamera. Schwebt zu den Klängen eines eigenwillig-melancholischen Jodelliedes über das mittelländische Nebelmeer den graublauen Gipfeln der Alpen zu. Steigt steilen Felswänden nach in die Höhe, treibt über trutzige Grate. Fliegt über Täler und Gipfel, gleitet hinein in grüngrau-zerklüftete Täler. Auf einem Felsplateau steht ein einsamer Wanderer, versunken dem Echo seiner Juchzer lauschend. Heimatklänge heisst Stefan Schwieterts neuster Film. Christian Zehnder steht da, juchzt und lauscht – just zwanzig Jahre nachdem Christine Lauterburg sich in Alpenglühn nichts sehnlicher wünschte, als hoch oben auf einem Gipfel ohne die rigorosen Einschränkungen des Jodelvereins frei zu jodeln. Der 1961 geborene Zehnder ist einer der mutigsten, eigenwilligsten und originellsten Stimmartisten der Schweiz. Mit dem Alphornisten Balthasar Streiff gründete er das Duo «Stimmhorn», das schon in Schwieterts das alphorn zu sehen ist. Bereits 1991 hat Pierre-Yves Borgeaud dem Stimm / Alphorn-Duo, das bei seinen Auftritten auch virtuos Quetschkommode und Kuhhorn zum Klingen bringt, in seiner Klang-Bildkomposition Inland die Ehre erwiesen. Dieser Landschaft, diesen gewaltigen Bergen, sagt Zehnder in Heimatklänge, müsse man etwas entgegensetzen. Holt aus und erzählt, wie die Landschaften den Stimmen der Menschen, die in ihnen wohnen, ihren Stempel aufdrücken, und dass ein Mensch aus der Wüste nie gleich klinge wie ein Mensch aus den Bergen; dann wechselt er zu seiner eigenen Biografie und erzählt, wie er sich selber, in früher Jugend erkrankt, auf die Suche nach der eigenen Stimme, dem eigenen Klingen machte. Diese Suche nach der eigenen Stimme wird in Heimatklänge, zu dessen weiteren Protagonisten der Appenzeller Geigen- und Jodelvirtuose Noldi Alder und die amerikanisch-schweizerische Stimm- und Performance-Artistin Erika Stucky gehören, zum Leitmotiv und wird auch zur Suche nach den Klängen der Heimat. Und diese Suche klingt, eineinhalb Jahrzehnte nach Ur-Musig, auch in anderen neuen Schweizer Musikfilmen an. Etwa in Thomas Lüchingers Johle und Werche (2007), der aufzeigt, wie das tägliche Leben, in Arbeit und Freizeit, der Bewohner des Toggenburgs heute noch von teilweise uralten Klangritualen – Lockrufen, Alpsegen, Johlen, Jodeln, Schellengeläute – geprägt ist, und wie die Bewohner des von starker Abwanderung geprägten Bergtals diese alten Sing- und Klang-Rituale bewusst als Weltmusik wieder animieren. Urplötzlich blitzt sie aber auch auf in Pierre Favre – Poetry in Motion, der ersten Regiearbeit des Kameramannes Pio Corradi. Weit davon entfernt bloss ein simples Musikerporträt zu sein, umkreist Corradis Film den Schlagzeuger Pierre Favre, eine Ikone der Schweizer Musikszene. Er begleitet ihn auf Reisen, bei neuen Projekten, zeichnet anhand von Foundfootage-Materialien Favres Leben und Werdegang. Und dann kommt es: Mitten aus einer Japan-Tournee heraus blendet der Film in die sanften Hügel des winterlichen Juras. Derweil sich auf der Leinwand Kühe und Pferde tollen, erzählt der weltbekannte Jazzer, dass er als Bub am liebsten Bauer geworden wäre. Als Jugendlicher habe er dann davon geträumt, wie auf dem Trommelfell der Besen zu führen sei, sei aufgewacht und habe das Spiel mit dem Trommelbesen gekonnt. Und die Kamera blickt wieder aus Favres japanischem Hotelzimmer. Favres Musik ist avantgardistisch, jazzig modern und doch erklingt am Schluss von Corradis Poetry in Motion eine Variation des uralten Guggisberg-Liedes.
(Bild: Hardcore Chambermusic)
Musiker sind Klang-Reisende. Musikfilme sind Trips. Selbst da, wo Kamera, Filmemacher und Protagonisten den ganzen Film hindurch an Ort und Stelle verharren wie in Peter Liechtis Hardcore Chambermusic – ein Club für dreissig Tage. Im September 2005 hat das seit fünfzehn Jahren mitten im internationalen Musikgeschehen stehende Trio Koch-Schütz-Studer einen ganzen Monat lang in einem improvisierten Club in Zürich-West Abend für Abend zwei Sets von jeweils vierzig Minuten gespielt. «30xTRIO» nannte sich das Ereignis und war der Improvisation verschrieben. «Ich kann nicht mit vollem Kopf auf die Bühne steigen, es braucht diese Leere, aus der die Musik zu strömen beginnt», erklärt Martin Schütz irgendwann in Liechtis Film. An der Bar lehnend unterhält er sich mit Studer und Koch darüber, dass man nicht denken soll beim Improvisieren, und dass gleichwohl gerade für die Improvisation nichts nötiger sei als die totale Beherrschung eines Instruments und das genaue Kennen der Mitmusiker … In die Leere tauchen Koch-Schütz-Studer also. Schöpfen daraus ihre ureigene Musik, die Liechti mit Mikrofon und Kamera einfängt und diese Aufnahmen seinerseits in wochenlanger Montagearbeit zu einem eigenständigen neuen Kunstwerk verarbeitet, das nun selber daherkommt wie ein Film gewordenes Stück Jazz. Fern von Hugo Zemps zwanzig Jahre alten Leitlinien zur korrekten Fertigung eines (ethnologischen) Musikfilms bewegen sich die jüngsten Schweizer Musikfilme. Vor allem Mettler, Liechti, Schwietert haben in den letzten Jahren das Genre revolutioniert und arbeiten, obwohl sie sich als Dokumentaristen begreifen, so virtuos und frei wie Experimental- und Spielfilmregisseure. Ihre Filme sind Trips, auf Zelluloid (oder HDV) gebannte Reisen ins Land der bewegten Bilder und flüchtigen Klänge; Leinwandabenteuer, in denen mal in der Bewegung nach aussen, mal im Blick nach innen – nicht immer, aber doch oft – leise die Frage beziehungsweise Sehnsucht nach der Heimat mitschwingt.
(Titelbild: Ur-Musig; Letztes Bild: O mein Papa)