Was mit Ari Folmans Waltz with Bashir (2008) und Marjane Satrapis und Vincent Paronnauds Persepolis (2007) erste Wellen schlug, hat sich in Europa zum Trend gemausert. Der animierte Dokumentarfilm, kurz Anidok oder Animadoc, hat sich als Nische etabliert, womöglich auch deshalb, weil der europäische Animationsfilm im Mainstreambereich den grossen amerikanischen und japanischen All-Ages-Blockbustern in Kino und Fernsehen nicht viel entgegenzusetzen hat.
Am letzten Fantoche, dem Schweizer Festival für Animationsfilm, liefen bezeichnenderweise gleich mehrere dokumentarische Langfilme: In Funan umkreist Denis Do die Erinnerungen seiner Mutter an die Schreckensherrschaft der Roten Khmer; Un homme est mort von Olivier Cossu arbeitet den Arbeitskampf bretonischer Bauarbeiter kurz nach dem Zweiten Weltkrieg auf; Santiago Caicedos Virus Tropical erzählt aus dem Leben der Comicautorin Power Paola zwischen Ecuador und Kolumbien, und Another Day of Life von Raúl de la Fuente und Damian Nenow verfilmt Ryszard Kapuścińskis berühmte Reportage aus Angola während des Unabhängigkeitskriegs.
Auffällig ist, dass diese – und die meisten in diesem Aufsatz diskutierten – Anidoks 2D-Filme sind; tatsächlich hat sich der Zeichentrick aus technischen, ökonomischen, aber auch inhaltlichen Gründen als die vorherrschende Technik etabliert. Deshalb ist in der Folge der Einfachheit halber von Zeichnung die Rede, wobei andere Techniken wie CGI, Rotoskopie, Legetrick oder Plastilin mitgemeint sind.
Der animierte Dokumentarfilm ist allerdings ein weniger neues Phänomen als gemeinhin angenommen. Zwischen 1915 und 1918 zeichnete der amerikanische Animationspionier Winsor McCay im zwölf Minuten langen The Sinking of the Lusitania den Torpedoangriff eines deutschen U-Boots auf ein Passagierschiff nach, der 1200 Menschen das Leben gekostet hatte. Mit seinem Film hoffte McCay, die öffentliche Meinung aufzurütteln und die US-Regierung zum Kriegseintritt zu bewegen. Indes, als der Film 1918 endlich fertiggestellt war, hatten die USA längst in den Krieg eingegriffen, und dieser ging seinem Ende entgegen.
Dass der Animationsfilm sich sehr wohl zum Reflektieren der Wirklichkeit eignet, blieb trotz dieses frühen Beispiels lange ein gut gehütetes Geheimnis. Zu unvereinbar schienen der Realitätsanspruch des Dokumentarfilms und das, wofür der Animationsfilm seit Walt Disney stand (und in den Augen vieler bis heute steht): fantastische, märchenhafte, lustige, familienfreundliche Unterhaltung, in der Feen und Hexen zaubern, Wunder wahr werden, Tiere und Autos sprechen und Prinzen Prinzessinnen retten und wachküssen.
Aber Zeitgeschichte? Politik? Persönliches? Dokumentarisches?
Dem dokumentarischen Wirklichkeitsanspruch widersprach, vordergründig zumindest, die einzig-artige Freiheit und Kreativität des Animationsfilms. Im Gegensatz zum Realfilm kann (und soll) er die Wirklichkeit nicht abbilden; vielmehr erschafft er seine eigene Realität. Deshalb schien es naheliegend, in Anima-tionsfilmen das wunderbare Reich der Imagination zu erforschen und zu bebildern, all das, was mit fotografischen Mitteln nicht gezeigt werden kann: Welten jenseits unserer Realität.
Paradoxerweise erweist sich der Animationsfilm heute dank genau dieser Fähigkeit als so wertvoll für die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Auch in der Wirklichkeit gibt es vieles, was sich nicht einfach so abfilmen lässt. Der Animationsfilm kann Dinge leisten, vor denen der Realfilm kapitulieren muss: Er geht dorthin, wohin die Kamera nicht gehen kann, in die Vergangenheit, in verbotene Zonen, in denen Kameras nicht erlaubt sind, oder in Innenwelten. Der Anima-tionsfilm kann Ereignisse aufarbeiten, für die es kein Archiv- oder anderes Bildmaterial gibt; er kann Bilder finden für Unsichtbares wie psychische Vorgänge, Emotionen, Krankheiten, Gedanken, für Abstraktes, Philosophisches, Theoretisches. [...]
Den ganzen Essay können Sie in der Printausgabe von Filmbulletin lesen: Ausgabe 2/2019 bestellen