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«Wir sind halt ein eigenartiges Land»

Über das Filmeschauen, das Filmemachen und den Schweizer Film sprachen Xavier Koller, Rolf Lyssy, Paul Riniker und Monika Schärer auf einem Podium in La Punt.

Text: Urs Heinz Aerni / 01. Apr. 2012

URS HEINZ AERNI Filmfestivals haben eine grosse Bedeutung für den Filmmarkt. Man trifft sich dort, um das Netzwerk zu pflegen und Geschäfte zu betreiben, aber die festliche Stimmung darf auch nicht zu kurz kommen. Wenn Sie jetzt von den Festivals in Locarno, Venedig, Cannes oder Berlin eines auswählen könnten, wohin würden Sie reisen wollen?

XAVIER KOLLER Nach Locarno.

URS HEINZ AERNI Warum?

XAVIER KOLLER Es ist dann Sommer, die wunderschöne Piazza, und es ist sympathisch klein, denn ich mag keine grossen Festivals.

ROLF LYSSY Nach Locarno reise ich sicher schon vierzig Jahre, da mich die grosse Leinwand auf der Piazza immer faszinierte, was natürlich nicht heisst, dass die Filme automatisch besser werden, je grösser die Leinwand ist. Allerdings ist meine Liebe zu Locarno erkaltet, da sich das Festival nicht zum Vorteil entwickelte. Es hat das kleine intime Ambiente verloren. Ich würde jetzt Venedig wählen, obwohl es da kein Open-air-Kino gibt.

MONIKA SCHÄRER (zu Lyssy): Was Sie damit sicher auch ansprechen möchten, ist die Tendenz, immer mehr Events rund um diese Festivals schaffen zu müssen.

PAUL RINIKER In Locarno und Solothurn war ich regelmässig, vierzig Jahre lang. Gerade Solothurn ist für mich eine Art Heimat, schon wegen der Vorführungen meiner Dokumentarfilme. Von Locarno träumte ich, bis dann Sommervögel auf der Piazza gezeigt wurde,
obwohl es dabei aus Kübeln goss. In Cannes und Venedig war ich noch nie, in Berlin einmal, und eigentlich wusste ich nicht so recht, was das ist, und fühlte mich da auch etwas verloren. In Locarno ist vieles kaputt gegangen, man denke zum Beispiel an den Untergang des Grand Hotels …

MONIKA SCHÄRER … immer traf man dort Paul an, der dort Audienz hielt …

PAUL RINIKER (lacht) Es war einfach eine Institution, man konnte dort sitzen und traf alle Leute. Es ist mir ein Rätsel, was die Tessiner mit solch schönen Häusern machen.

URS HEINZ AERNI Xavier Koller, wie nimmt man eigentlich in den Staaten die hiesigen Festivals wahr? Sind sie und ihre Preise dort überhaupt ein Thema?

XAVIER KOLLER In der Filmindustrie nimmt man sie schon zur Kenntnis, wenn auch die Berichterstattung eher bescheiden ausfällt. Aber in Bezug auf neue und junge Talente sind die europäischen Festivals wichtig.

URS HEINZ AERNI Aber der Publikumspreis für Rinikers Sommervögel in Locarno war in Los Angeles kein Thema …

XAVIER KOLLER (lacht) Nein, ich habe gar nichts darüber gelesen.

Schaerer 01

URS HEINZ AERNI Auffallend an Locarno 2011 war doch die gesteigerte mediale Aufmerksamkeit für die Hollywood-Präsenz, Daniel Craig, Harrison Ford und andere.

MONIKA SCHÄRER Im Gegensatz zu Rolf Lyssy finde ich schon, dass sich in Locarno was tut und auch Kinogeschichte geschrieben wird. Unter der neuen Leitung von Olivier Père aus Cannes weht ein frischer Wind. Man kennt keine Berührungsängste, nach keiner Seite. Und sicherlich gehören grosse Namen auch zur Promotion von Locarno, aber man spürt die enorme Vernetzung, die die Filmfamilie auf eine lustvolle Art zu versammeln mag.

URS HEINZ AERNI Aber besteht nicht die Gefahr, dass Locarno sich zu einem Cannes hochmausert und schliesslich alle Festivals sich gleichen?

XAVIER KOLLER Das glaube ich nicht, denn Cannes oder Berlin sind sehr grosse Filmmärkte, die trotz Goldener Palme oder Goldenem Bär eher Werbeveranstaltungen sind und ein anderes Business betreiben. Da wird verkauft und gekauft …

URS HEINZ AERNI Eine Art Filmbörse?

XAVIER KOLLER Genau, aber trotz allem ist das Filmgeschäft auch ein persönliches Geschäft, man muss sich kennen und auch persönlich
treffen.

MONIKA SCHÄRER Cannes ist in dieser Hinsicht faszinierend: wie da Hunderte von Marktständen ihre Filme zum Verkauf anpreisen und Handel betreiben.

URS HEINZ AERNI So quasi eine Filmmesse …

MONIKA SCHÄRER Absolut. Was man als Journalist und Besucher gar nicht wahrnimmt, sind all die Yachten im Hafen, auf denen die
eigentlichen Geschäfte abgeschlossen werden. Ich glaube, es sind selten Schweizer auf den Decks zu sehen.

URS HEINZ AERNI Wie erlebt Ihr als Filmemacher die Präsentation Eures Films, wenn Ihr so mitten im Publikum sitzt? Was geschieht mit Euch, wenn die ersten Reaktionen, etwa Lacher, zu vernehmen sind, oder aber auch wenn nichts kommt, dort, wo man eigentlich Lacher erwartet hätte?

PAUL RINIKER Als in Locarno mein erster Spielfilm gezeigt wurde, suchte ich mir einen Platz am Rand, so dass ich jeweils verschwinden konnte. Meine Nervosität war riesig. Ich musste raus, rauchte eine Zigarette, und immer wenn ich wieder zurückkam, lachte das Publikum. Aber ich hab doch keine Komödie gemacht! Auch die Presse sprach oft von einer Komödie, dabei meinte ich, eine Art Drama verfilmt zu haben, allerdings eines mit komischen Elementen. Es war für mich verblüffend. Natürlich hat es mich ebenso gefreut. Es gibt Szenen, die intern infrage gestellt wurden, auf die das Publikum besonders reagierte. Wir machten, ähnlich wie Hollywood, sogenannte Test-Screenings und veränderten anschliessend gewisse Szenen …

ROLF LYSSY Weil niemand lachte …

PAUL RINIKER (schmunzelt mit Blick zu Lyssy) … oder weil sie am falschen Ort lachten. Ich weiss nicht, Rolf, wie das bei dir war, als du Komödien machtest.

ROLF LYSSY Wenn ich eine Komödie machte, dann wusste ich, dass ich eben eine Komödie machte …

PAUL RINIKER Aber ich machte keine Komödie.

ROLF LYSSY Eben, das müssten wir etwas näher betrachten. Du machtest keine Komödie und die Leute lachten.

PAUL RINIKER Klar, aber das Publikum ist nicht absolut berechenbar.

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URS HEINZ AERNI In einem Film, der nicht als Komödie deklariert wird, gibt es bekanntlich ironische Momente und Situationen, an denen doch gelacht werden darf. Meine Frage lautet, wie man damit umgeht, wenn das Publikum völlig anders als erwartet reagiert.

ROLF LYSSY Jeder Mensch hat seine unverwechselbaren Empfindungen, aber eine Komödie, bei der niemand lacht, ist keine Komödie. Das Lachen ist ein Reflex, es entsteht nicht aus einer Überlegung, und wenn nicht spontan herausgelacht werden kann, dann stimmt etwas nicht, in unserem Falle am Film, an der Komödie. Ich bin mein erster eigener Zuschauer, somit meine eigene Messlatte, mein Seismograph. Zudem muss ich ein Gefühl für andere Menschen entwickeln, um abschätzen zu können, ob diese Szene funktioniert. Wie dann das Lachen ausfallen wird, weiss ich trotz allem nicht, ich weiss nur, dass ich eine Geschichte zu erzählen habe und dass ich da und dort lachen kann. Es muss für mich lustig sein, sonst funktioniert es nicht.

URS HEINZ AERNI Wenn das Publikum bei die Schweizermacher nach über dreissig Jahren noch immer an denselben Stellen lacht, liegt das dann am zeitlosen Thema, am noch immer aktuellen politischen Stoff oder daran, dass das Publikum sich nicht verändert hat?

ROLF LYSSY Alles zusammen. Nehmen wir andere erfolgreiche Filme, von Billy Wilder oder Woody Allen; es gibt schlicht zeitunabhängige Filme. Der Humor, richtig dosiert und gebaut, kennt kein Verfallsdatum.

URS HEINZ AERNI Es gibt somit klare handwerkliche Regeln und Gesetze?

PAUL RINIKER Ich möchte dem total widersprechen. Ich finde das nicht richtig, aus eigener Erfahrung. Ich nehme Filme sehr unterschiedlich wahr, je nach Umständen und Stimmungslage. Ich kann den gleichen Film dreimal sehen, und ich kann ihn dreimal anders erleben. Ob ich mit drei Pressevertretern in einem grossen Kino sitze oder zusammen mit einem Publikum, das sind doch himmelweite Unterschiede.

URS HEINZ AERNI Kurzer Szenenwechsel, Xavier Koller, Sie waren als Kind ein Komödiant und in der Schule ein Spassvogel …

XAVIER KOLLER So so?

URS HEINZ AERNI … doch Ihre Filme sind eher schwerer Natur und behandeln eher ernste Stoffe. Eine bewusste Wahl – als Kontrast zum eigenen Gemüt – oder kommen die Themen auf Sie zu?

XAVIER KOLLER Die Geschichten finden mich, nicht umgekehrt. Dann gehe ich der Sache nach, recherchiere und suche einen Weg, den Inhalt darzustellen, diesen zu kommunizieren.

URS HEINZ AERNI Dann folgt die Herausforderung der Umsetzungsform.

XAVIER KOLLER Unsere Hauptaufgabe besteht darin, die Stoffe zu transformieren, damit sie lesbar und nachvollziehbar werden, so dass das Publikum der Geschichte folgen kann. Egal ob dies über das Lachen, Weinen, über Betroffenheit oder Unterhaltung geht. Die Art und Weise der Kommunikation ist wichtig, die durch Erfahrung umgesetzt werden kann, mit dem Wissen, was trägt und wo die Essenzen liegen. Ich glaube, dass auch die Slapsticks wie diejenigen von Keaton oder Chaplin nach wie vor gut sind. So wie der Aufbau einer Pointe in einer Komödie. Es gibt eine Mechanik des Humors, ein Grundhandwerk.

URS HEINZ AERNI Was eine Aussage von Loriot bestätigt, der mal gesagt hat, dass es lustiger sei, wenn einem Adligen in seinem Schloss ein Hammer aus den Händen fällt, als dass das einem Handwerker in der Werkstatt passiere. Monika Schärer, wie beeinflusst denn die Reaktionen des Publikums und die eigene Gemütsverfassung die Arbeit einer Filmkritikerin?

MONIKA SCHÄRER Es ist wohl das schlimmste, wenn man nur mit Journalisten vor einem Film sitzt – wie sie gelangweilt dasitzen und immer gleich entscheiden wollen oder müssen, ob der Film nun gelungen ist oder nicht. Kaum ist der Film aus, wird geurteilt und verurteilt. Und durch Lachen will man sich auch nicht exponieren. Wenn einer lacht, fragen sich die anderen, warum jetzt der da hinten lacht. Aber ich glaube, wenn ein Film funktioniert, dann spielt es keine Rolle, mit wem und mit wievielen Leuten man im Kino sitzt. Und doch kann auch wieder mehr passieren, wenn mehr Menschen reagieren …

XAVIER KOLLER Es ist schon ein sehr grosser Unterschied, ob fünfhundert Leute in Cannes oder zehn Journalisten in Zürich einen Film sehen. Man darf ja gar nicht geniessen. Eine latente Fragehaltung, was schlecht und was vielleicht gut ist, erzeugt doch eine ganz andere Stimmung. Die Lust des Sehens und Wahrnehmens wird so doch gemindert.

MONIKA SCHÄRER Das ist richtig, deshalb müssten Journalisten immer auch in öffentliche Vorführungen gehen, erst recht bei Komödien.

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ROLF LYSSY Eigentlich sollte es keine Pressevorführungen geben. Die Kritiker sollten im Kino mitten im Publikum sitzen, und die ganze Stimmung drum herum müsste berücksichtigt werden.

Aber ich möchte noch auf das zurückkommen, was Paul Riniker in Bezug der immer neuen Wahrnehmung des gleichen Films sagte. Für mich ist der Film immer gleich, und so wie ich die Filme gemacht habe, so sind sie. Das Publikum kann jedoch von Ort zu Ort anders sein, und dann spielt es auch noch eine Rolle, ob eine Komödie oder eine tragische Geschichte gezeigt wird, bei der die Menschen still im Saal sitzen, wie in einer Andacht. Komödien erzeugen direkte und vernehmbare Reaktionen. Ich machte mal die Erfahrung, dass St. Galler tatsächlich schneller gelacht haben als Berner und erst noch an anderen Stellen. Die Rezeptionsskala des Publikums ist eigentlich unendlich, denn es gibt so viele Empfindungen wie es Zuschauer gibt.

URS HEINZ AERNI Kommen wir von den regionalen Unterschieden zum internationalen Vergleich. Wie seht Ihr den Schweizer Film im Kontext des internationalen Filmschaffens? Sind erfreuliche Entwicklungen vielleicht durch Kooperationen auszumachen oder steht der Schweizer Film eher mit dem Rücken an der Wand, harrend einem grösser werdenden Druck aus dem Ausland?

XAVIER KOLLER Ich beobachte vermehrt Kooperationen mit ausländischen Partnern und dadurch auch mehr finanzielle Möglichkeiten, die früher nicht vorhanden waren. Auch der Mix mit und in den Sprachen wird grösser. Landessprachen sind in der Filmbeurteilung nicht mehr so massgebend. Das stelle ich auch als Mitglied der Academy of Motion Picture Arts and Sciences fest, denn früher war die Landessprache noch sehr ausschlaggebend, quasi als Identität der Herkunft, was heute nicht mehr der Fall ist. Solche Veränderungen registriere ich aus meiner Sicht in den USA.

ROLF LYSSY Skeptisch bin ich, wenn ein Schauspieler aus Frankreich und ein Schauspieler aus Polen im Film mitmachen sollen, damit oder weil Geld auch aus diesen Ländern fliesst. Das kann dazu führen, dass der Ursprung der künstlerischen Gestaltung oder der Geschichte verwässert wird und so der Film an Identität verlieren kann. Ich plädiere nach wie vor für die Identität eines Filmes, was vielleicht etwas konservativ erscheinen mag. Ich wuchs mit dem Kinofilm auf, nicht mit dem Fernsehfilm, und erlebte Filme aus den verschiedensten Ländern. Mit Leidenschaft sah ich in den fünfziger und sechziger Jahren russische Filme, in denen russisch gesprochen wurde, oder dann schwedische Filme et cetera, mit anderen Worten, es gab ein Bouquet von Nationen mit ihren Mentalitäten …

URS HEINZ AERNI Quasi eine Artenvielfalt im Film?

ROLF LYSSY Ja, eine Artenvielfalt wie auf einer schönen bunten Wiese mit allen Arten von Blumen. Zwar kochten alle auch mit Wasser, aber es war spannend, die verschiedenen Sprachen mit anderen Bildern und Schauspielern zu erleben, das faszinierte mich. Denken wir an die Filme aus Dänemark, die nicht erst in den letzten Jahren gut sind, sondern immer schon aussergewöhnlich waren. Der alte Schweizer Film hatte seinen typischen Charakter, zum Teil auch in der Neuzeit, aber durch die Grenzöffnungen im Bereich Kooperation begann es, eben zu verwässern und seine Eigenarten zu verlieren.

PAUL RINIKER (zu Lyssy): Du meinst, dass jeder Film seine Wurzeln haben sollte?

ROLF LYSSY Ja, aber ich meine damit nicht, dass deswegen jeder Schweizer Film im Dialekt gesprochen werden muss.

PAUL RINIKER Aha, also so dass die Filme nicht in einer globalisierten Sauce verschwinden und kein Zuhause mehr haben.

MONIKA SCHÄRER Nehmen wir den französischen Film Bienvenue chez les ch’tis.

ROLF LYSSY Der ist eben verwurzelt …

MONIKA SCHÄRER Ja, aber dann kam die italienische Adaption mit Benvenuti al sud, der den genau gleichen Slash …

URS HEINZ AERNI Mit dem entsprechenden Lokalkolorit …

MONIKA SCHÄRER Ja, beide Filme erzählen eine Geschichte, die aus dem Kuchen vor Ort geschnitten wurde oder aus dem Lokalen gewachsen ist. Reise der Hoffnung ist ja auch eine Geschichte, die sich hier in der Schweiz abspielen musste und doch überall hätte stattfinden können.

URS HEINZ AERNI Xavier Koller nennt seine Filme auch «Welttheater», da das Erzählte alle angeht.

MONIKA SCHÄRER Ich fragte mal den Produzenten Mike Medavoy, den man unter anderem durch Miss Potter oder Black Swan kennt, was er denn den Schweizer Filmern rate, und er empfahl, Geschichten zu finden, die auf dem eigenen Mist gewachsen sind, aber eine universelle Aussagekraft haben.

XAVIER KOLLER Erfolgreiche Filme aus den USA sind Filme mit Identität und Wurzeln, das geht mit regionalem Hintergrund, in kleinen Ortschaften. Im Gegensatz zu den Filmen, die mal als “Eurosaucen” in Mode waren, mit Szenen in Mailand, Paris, Berlin oder Wien. Die fielen durch, weil sie schlicht falsch gebaut wurden.

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URS HEINZ AERNI Generieren Filme nicht auch Stimmungen und Gefühle, etwa wenn man vom japanischen oder schwedischen Film spricht? Was löst es aus, wenn man vom Schweizer Film spricht? Gibt es ein Grundcharakteristikum auch für den Schweizer Film?

MONIKA SCHÄRER Das gibt es doch nicht.

XAVIER KOLLER Doch, das gibt es schon.

MONIKA SCHÄRER Aha, wie denn?

XAVIER KOLLER Sicher beginnt es bei der Sprache …

MONIKA SCHÄRER Aber er meint was anderes, nicht nur dass die Schauspieler nicht Japanisch reden.

URS HEINZ AERNI Ich rede von der Stimmung, von einem atmosphärischen Unterton oder einer Aura …

ROLF LYSSY Die gibt es natürlich auch beim Schweizer Film. Der Film aus der französischen Schweiz ist doch schon ganz anders als der deutschschweizerische. Und nicht nur wegen der Sprache, sondern eben wegen der Mentalität! Aber wir sind ja halt ein eigenartiges Land. (lacht)

MONIKA SCHÄRER Was mich verstimmt, wenn ich in einem Schweizer Film höre, da redet einer Basler Dialekt, eine Zürichdeutsch und wieder ein anderer Bündnerdeutsch, und man tut so, als ob es egal wäre. Sagen wir, er spielt in Zürich, und obwohl da ja Berner, Bündner und Basler leben, tut man im Film so, als wären alle Zürcher. Aber ein Bündner, der in Zürich lebt, ist ein Bündner, der in Zürich lebt und deshalb eine eigene Geschichte mitbringt, und das will ich irgendwie auch im Film sehen, ansonsten funktioniert das nicht.

XAVIER KOLLER Spielt der Kantönligeist also heute noch eine Rolle?

MONIKA SCHÄRER Im Film ja, denn dahinter steckt irgendwie eine Geschichte.

URS HEINZ AERNI Anders formuliert, wenn in einem Film aus Graubünden mit einem Bündner Problem eine Person baseldeutsch spricht, wäre das fehl am Platz?

MONIKA SCHÄRER Es sei denn, die Geschichte dahinter gehöre zum Stoff.

URS HEINZ AERNI Ansonsten könnte der Zuschauer mental sich im Film nicht geografisch verorten?

MONIKA SCHÄRER In dem Falle würde ich wissen wollen, warum der Basler in Graubünden ist oder wenigstens etwas dazu spüren.

PAUL RINIKER Hast du denn das Gefühl, Monika, dass sich der Regisseur das nicht überlegt? In Sommervögel hatten wir circa sechs Dialekte, und bei allen haben wir uns über mögliche Geschichten dahinter Gedanken gemacht, haben uns gefragt, warum spricht dieser und jener diesen Dialekt, befindet sich aber hier. Diese Geschichten muss man aber nicht erzählen.

MONIKA SCHÄRER Okay, es ist ja schön, wenn das gemacht wird, aber ich spüre oft nichts dahinter. Diese Situation wurde diesbezüglich nicht hinterlegt, es fliesst dann nicht.

URS HEINZ AERNI Das ist ja alles sehr interessant: wir wollten über Globalisierung diskutieren und reden jetzt über Basler und Berner Dialekte im Schweizer Film.

ROLF LYSSY Ich arbeite momentan zusammen mit einem Drehbuchautor an einem grösseren Projekt. Für mich ist klar, dass eine der Figuren, ein Banker, von Peter Jecklin gespielt werden muss. Jecklin ist Bündner, und daran kommt man nun nicht vorbei. Das heisst, dass er nun auch eine passende Geschichte bekommt. Das muss man ernst nehmen und miteinbauen, so dass er mit seinem Dialekt eine intakte Authentizität im Film innehat, egal wo es sich dann abspielt.
Die Macher müssen den Figuren einen Background, eine Biografie geben, die sich dann in der Sprache der Schauspieler erklärt. Und wir in der Schweiz sind nun mal ein Spezialfall. Ich verteidige immer durch alle Böden hindurch den Dialektfilm. In den neunziger Jahren gab es im Schweizer Fernsehen keine Mundartfilme. Obwohl die Geschichten sich in der Schweiz abspielten, sprachen die Schauspieler Hochdeutsch, doch jetzt entwickelt sich dies wieder zum Besseren. Die Sprache gehört nun mal auch zur Identität, und sonst hätte ich es machen sollen wie Xavier Koller: nach Amerika auswandern, wo 300 Millionen Menschen dieselbe Sprache reden, abgesehen von den regionalen Slangs. Ein riesiges Reservoir an Schauspielern …

PAUL RINIKER … und Zuschauern! (Gelächter)

URS HEINZ AERNI Stimmt das Gerücht, dass Dialekte auch bewusst für bestimmte Charakterrollen eingesetzt werden?

ROLF LYSSY Also wenn das ein Gerücht ist, dann hoffe ich, dass es so bleibt. Die Geschichte muss stimmen, die Figuren müssen passen, damit soviel Menschen wie möglich sich den Film ansehen und ihn verstehen. Das ist der Wunsch eines Filmemachers.

XAVIER KOLLER Das Marketing muss auch stimmen.

MONIKA SCHÄRER Und vor allem, es gibt kein Rezept. Dann wäre es ja einfach.

URS HEINZ AERNI Aber hat nicht Rolf Lyssy von Grundsätzen und Rezepten, die funktionieren, gesprochen?

ROLF LYSSY Regeln, ich sprach von Regeln. Die Regeln der Dramatik der Griechen gelten heute noch, und wenn man was Neues versuchen will, endet es oft in der Sackgasse.

URS HEINZ AERNI Paul Riniker, Sie wurden vom Dokumentarfilmer nun auch durch den Spielfilm zum freien Erzähler. Früher besuchten Sie Welten, jetzt kreieren Sie Welten, mit Menschen, die nicht schon in Lebensrollen stecken, sondern sich in erfundene Rollen versetzen. Worin lag für Sie der Reiz für diesen Wechsel?

PAUL RINIKER Ich weiss es eigentlich nicht. Seit Jahrzehnten wollte ich schon immer einen Spielfilm realisieren. Ich hatte eine sichere Anstellung beim Schweizer Fernsehen, ein Spielfilm hätte ein Risiko bedeutet. Aber mit der jetzigen Erfahrung stelle ich fest, dass die Arbeit gar nicht so anders war, ausser dass ich ein Happy End machen konnte, was in all meinen siebzig Doks nie der Fall war. Wie das Leben, das eigentlich kein Happy End kennt. Statt drei Leute auf dem Set waren es beim Spielfilm über dreissig, aber ansonsten bleibt alles gleich: gute Stimmung halten, Ziel verfolgen …

XAVIER KOLLER Aber beim Spielfilm musst du doch eine Geschichte schreiben, was beim Dokumentarfilm nicht der Fall ist.

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PAUL RINIKER Das stimmt, das war auch extrem mühsam. Vier Jahre hat es gedauert, und vier Leute haben daran gearbeitet und sicher ist, ich habe sehr viel dabei gelernt.

XAVIER KOLLER Die Geschichte ist die Basis des Spielfilms, genauso die Entwicklung der Charaktere. Beim Dok musst du mit vorhandenen Charakteren arbeiten, mit seiner Neugier macht man sie fürs Publikum transparent …

PAUL RINIKER Aber das ist beim Spielfilm doch ganz ähnlich. Klar müssen Figuren erfunden werden, aber bei der Ausarbeitung muss man sie irgendwie neu entdecken …

XAVIER KOLLER Beim Dokumentarfilm muss man sie aber darstellen, beim Spielfilm muss man sie kreieren.

PAUL RINIKER In der ersten Version des Drehbuches hatten die Figuren viel zu wenig Gestalt, sie waren lediglich skizziert, durch Recherchen bekommen sie Farbe und Charakterzüge.

XAVIER KOLLER Ich muss mir zuerst die Charakter erstellen, konstruieren, sonst weiss ich gar nicht, mit wem ich es zu tun habe; ich kann sie nicht spielen lassen, wenn ich sie nicht kenne. Beim Verfassen der Story reden die dann, da muss ich gar nicht mehr lange darüber nachdenken.

PAUL RINIKER Das stimmt, von dem Moment an, als mir die Figuren bewusst waren, wurde es auch einfacher, den Plot zu schreiben.

URS HEINZ AERNI Was passiert, wenn ein Schauspieler plötzlich dies und jenes anders sieht und vieles ändern will? Wenn er daherkommt und sagt, ich will das ganz anders spielen. Oft ein enormes Konfliktpotential, oder?

XAVIER KOLLER Das kann man vorher klären, sonst muss ich ihn ja auch nicht engagieren. Wichtig ist, dass er nachvollziehen kann, was ich will. Dazu kommt noch, dass Schauspieler eben spielen wollen, und wenn die Gage stimmt, dann sowieso. Die Auseinandersetzung mit der Figur muss vorher stattfinden. In der Regel ist es ja so, dass die Schauspieler den Text schon vorher kennen. Aber ich schätze auch Schauspieler, die wissen, was sie wollen. Ich weiss schon, was ich geschrieben habe, aber wenn der Schauspieler sich hineinversetzt, mit seiner Empathie mitgestaltet, dann kann der Film nur besser werden. Jedem – vom Lichttechniker bis zum Kameramann – muss man die Chance geben, es besser machen zu können.

PAUL RINIKER Bei mir kam es vor, dass Hauptdarsteller fragten, ob sie das wirklich sagen sollen. Die haben es genau gespürt, wenn ein Satz zuviel war. Dann bin ich auch um Inputs dankbar.

MONIKA SCHÄRER Ein Regisseur muss doch auch entscheiden können. Es wollen doch alle mitreden, von der Garderobe bis zum Cutter. Da muss man wissen, was man will.

PAUL RINIKER Sicher, man muss dankbar sein, wenn zusätzliche Ideen und Vorschläge verwendbar sind, das ist doch ein Geschenk.

URS HEINZ AERNI Und doch kann ich mir vorstellen, dass unterschiedliche Vorstellungen nicht wenige Mal zu einem Machtkampf führen können …

XAVIER KOLLER Vieles spielt bei der Arbeit mit, das Arbeitsklima, der Stoff, die Dramatik der Szenen, das Wetter und so weiter. Entscheidungen fussen auch auf Gesprächen und dem Zuhören. Dieses Bewusstsein sowie die Bereitschaft, sich auch von dem, was hier und jetzt geschieht, überraschen zu lassen. Es macht auch Spass, wenn Ideen eingebracht werden, die ursprünglich nicht vorgesehen waren.

MONIKA SCHÄRER Ausser wenn der Produzent mit der roten Karte hinter dem Rücken dasteht.

XAVIER KOLLER Das habe ich selten erlebt.

URS HEINZ AERNI Kann man bei den Dreharbeiten von einem organischen Prozess reden?

XAVIER KOLLER Das muss so gehen, nur so passierts.

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URS HEINZ AERNI Zum Schluss noch ein letzter Themenwechsel. Loriot karikierte früher Werbespots und erklärte in hohem Alter, dass heute die Fernsehwerbung in einem solchen Tempo und mit Specialeffects gemacht sei, dass jegliche inhaltliche Verulkung verunmöglicht werde. Wie erlebt Ihr die Entwicklung des Films durch Tempo und harte Schnitte für Eure Arbeit? Hat das Tempo Euer Schaffen eingeholt?

ROLF LYSSY Was Sie hier ansprechen, finde ich ein ganz wichtiges Thema. Die Beschleunigung, die wir in letzter Zeit durch die technischen Möglichkeiten erleben, finde ich problematisch. Gesellschaftliche Untersuchungen sehen in diesem Zusammenhang auch eine Zunahme an Depressionen. Natürlich nicht ausschliesslich, aber man entdeckte Beziehungen zwischen Beschleunigung und der Qualität der psychischen Befindlichkeit. Es ist eine sich immer schneller drehende Spirale, mit der viele Menschen nicht mehr klarkommen. Diese Frage ist auch im Bereich von Kunst und Medien permanent präsent. Alles wurde schneller und kürzer seit MTV und den Videoclips. Der Effekt oder die Form wurde wichtiger als der Inhalt. Die technischen Raffinessen und Spielmöglichkeiten verführen. Ich komme aus einer anderen Zeit und versuche heute, diesem Trend etwas Gegensteuer zu geben. Filme, die in sich so rhythmisch stimmen, damit ich meinen Rhythmus anpassen kann, schätze ich sehr. Filme, die es mir erlauben, die Geschichte aufzunehmen, und ich auch reflektieren kann. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Geschwindigkeit ins Nichts führt.

XAVIER KOLLER Wenn ich meine Tochter beobachte, dann stelle ich fest, dass sie ihre Arbeit gut macht und dabei das Tempo keine Rolle spielt. Sie chattet, twittert, hört Musik und erledigt dazu noch die Hausaufgaben. Die Jugend funktioniert eben anders, es wurde ihnen antrainiert. Offenbar läuft hier ein anderes Programm. Sicher verändern sich Sehgewohnheiten und damit auch die Geschichten.

URS HEINZ AERNI Und doch könnte darunter die Kultur der Differenzierung leiden?

PAUL RINIKER Es verkürzt in der Erzählstruktur. Früher musstest du im Film, wenn jemand durch eine Türe eine Wohnung betritt, alle Schritte zeigen. Heute reichen Ansätze und man weiss Bescheid.

MONIKA SCHÄRER Heute kombiniert man schneller die Kausalität …

URS HEINZ AERNI Zum Schluss möchte ich Sie fragen, ob es für Sie einen Lieblingsort oder eine Lieblingsatmosphäre gibt, wenn Sie sich bewusst einen Film ansehen.

XAVIER KOLLER Da kommen mir zwei Kinos in Los Angeles in den Sinn, mit grossen Leinwänden, ohne ellenlange Vorfilme und ohne Popcorn. Oder meine eigene grosse Leinwand …

URS HEINZ AERNI Muss man sich ein Wohnzimmer mit schöner grosser Leinwand vorstellen?

XAVIER KOLLER Nein, ein Büro. Im Wohnzimmer haben wir keinen Fernseher. Aber im Büro visioniere ich pro Jahr rund sechzig Filme für die Acadamy. Ganz alleine und, weil ich ein Frühaufsteher bin, auch frühmorgens.

MONIKA SCHÄRER Es ist für mich ein schönes Privileg, an den Festivals am Vormittag sich ins Polster setzen zu dürfen und Uraufführungen von Filmen zu sehen, über die man noch nichts gelesen hat.

ROLF LYSSY Möglichst grosse Leinwand, möglichst kein Popcorn, mit der Hoffnung, dass mich die nächsten zwei Stunden bereichern. Der Moment, in dem es im Kino dunkel wird, ist immer wieder ein magischer Augenblick. Heute guckt man sich Filme schon auf Handys an, ich plädiere für das grosse Kino.

PAUL RINIKER Mein Traumkino gibt es schon lange nicht mehr, das Apollo in Zürich. Ich wohnte damals ganz in der Nähe, und ich genoss Kopf in Nacken die riesige Leinwand. Und wenn ich heute einfach Lust auf Kino habe, so finden Sie mich im Filmpodium Zürich, da weiss ich, dass jeder Film gut ist …

Das Podiumsgespräch mit Xavier Koller, Rolf Lyssy, Paul Riniker und Monika Schärer führte Urs Heinz Aerni im August 2011 in La Punt.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2012 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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