Wilde Geschichten in der Tat. Sie beginnen langsam, eigentlich normal, um sich dann durch kleine Sticheleien und postwendende Repliken immer weiter hochzuschaukeln. Kurzum: Sie feiern in guter alter «Tit for Tat»-Manier, die man noch aus den Stummfilmkomödien eines Hal Roach kennt, die Eskalation der Zerstörung. Es geht im neuen Film von Damián Szifrón in sechs Episoden oder besser: Kurzgeschichten um Katharsis und Vergeltung, um Ausbruch und Befreiung, um Unrecht und Rache, ohne Rücksicht auf Verluste. Hier bringt ein harmloser Tropfen das Fass rasch zum Überlaufen und ruft eine unaufhaltsame, erst recht unumkehrbare Kettenreaktion hervor. Dabei beginnt es, noch vor dem Vorspann, ganz harmlos, mit Passagieren, die ein Flugzeug besteigen, miteinander ins Gespräch kommen und kurz darauf feststellen, dass sie alle einen gemeinsamen Bekannten haben, der sie zu diesem Flug eingeladen hat: Pasternak. Und der führt, hoch über den Wolken, konsequent seinen Racheplan aus …
In Episode 2, «Die Ratten», rechnet die Bedienung eines Schnellimbisses mit ihrem einzigen Kunden ab, einem Kredithai, der ihren Vater in den Selbstmord trieb. «Strasse zur Hölle» wird seinem Namen mehr als gerecht, und zuweilen fühlt man sich an Two Tars von Laurel und Hardy erinnert – nur, dass es hier noch unerbittlicher zugeht: Ein Geschäftsmann muss in seinem nagelneuen Audi lange hupen, bis er endlich auf einsamer Landstrasse den Proleten in seiner Rostlaube überholen kann. Den Stinkefinger hätte er ihm aber besser nicht gezeigt …
In «Bombita» rächt sich ein Sprengmeister an der Stadtbehörde – sein Auto wurde willkürlich abgeschleppt – mit dem, was er am besten kann: Sprengen nämlich. In «Die Rechnung» will ein wohlhabender Industriekapitän gegen üppige Belohnung seinem Gärtner die Schuld für einen Autounfall mit Fahrerflucht, den eigentlich sein Sohn verursacht hat, übertragen. Schliesslich erzählt «Bis dass der Tod uns scheidet» von einer Hochzeitsfeier, die ausser Rand und Band gerät, weil die Braut fest davon überzeugt ist, dass ihr Mann eine Affäre mit einer ihrer Kolleginnen hatte …
Vor allem «Bombita» macht deutlich, wie Frust, Unzufriedenheit, Ungeduld, Sturheit und Unverständnis eine unheilvolle, im wahrsten Sinne des Wortes explosive Mischung bilden. Dies ist nicht mehr das sprichwörtliche südamerikanische Temperament – dies ist ein Crescendo selbstvergessener Wut, die von Szifróns Menschenkenntnis zeugt, aber auch von seinem sozialen Bewusstsein. Argentinien ist nach dem Ende der Militärdiktatur 1983 und dem Wohlstand der neunziger Jahre ein Land, in dem Korruption, bürokratische Willkür und soziale Ungerechtigkeit den Alltag der Menschen erschweren. Wild Tales kommt somit auch politische Bedeutung zu. Hier sind Wutbürger am Werk, die sich nichts mehr gefallen lassen und dabei jedes Mass verlieren. Eine Masslosigkeit, die das Unmögliche wagt und dabei, besonders in den präzis vorbereiteten, perfekt getimten Actionszenen, einen Hauch Tarantino verströmt. Nicht jeder Kurzfilm wird dabei dem Anspruch des Gesamtwerks gerecht. Manche Episode folgt einfach dem Reiz des Kinetischen, bei dem eine übergeschnappte Attraktion auf die nächste folgt. Unter Umständen könnte man in den Duellanten der Landstrasse ein Gefälle zwischen Arm und Reich ausmachen. Doch die Absicht ist hier die realistische Erzeugung von Angst, die lustvolle Übertreibung, die absurde Steigerung, das makabre Ende. Wie bei Steven Spielbergs Regiedebüt Duel werden die Autos zu Mordinstrumenten, es geht um Leben und Tod. Der Verlust jeglicher Kontrolle als angenehme Kinounterhaltung.