Wer hat nicht schon einmal davon geträumt, auszusteigen, alles hinter sich zu lassen, losgelöst zu sein von gesellschaftlichen Erwartungen oder bürgerlichen Werten, von Besitz oder Gesetzen. Was für eine aufregende, verführerische Vision: zu denken und zu tun, was man will, zu gehen, wohin man will. Doch nur wenige hatten den Mut, diesen Traum zu verwirklichen – zu unvernünftig und verantwortungslos erscheint er.
Einer derjenigen, die es gewagt haben, ist Christopher McCandless, ein vielversprechender junger Mann, der nach dem College alles hinwarf, um in Alaska ein einsames Leben im Einklang mit der Natur zu führen. Doch seine Sinnsuche endete tödlich, im April 1992. Der Wissenschaftsjournalist Jon Krakauer hat die letzten beiden Lebensjahre des jungen Mannes rekonstruiert, mit den Menschen gesprochen, die McCandless unterwegs getroffen hatte, seine Aufzeichnungen gelesen. Sein Buch «Into the Wild» schaffte es 1996 gleich in die Bestseller-Listen. Eine derart abenteuerliche Geschichte, verbunden mit dezidierter Zivilisationskritik, musste man einfach gelesen haben. Dieses Buch diente nun Sean Penn, der sich schon in seinen vorangegangenen Regiearbeiten The Indian Runner (1991), The Crossing Guard (1995) und The Pledge (2001) für Aussenseiter interessierte, als Vorlage für seinen neuen Film. Ein Film, der zur momentanen Stimmung in den USA passen will: Eine Nation, die noch immer Krieg führt, scheint die Zivilisationsflucht geradezu zu provozieren.
Als der Film beginnt, hat Christopher McCandless sein Ziel, die unberührte Natur Alaskas, bereits erreicht. Mitten in der Wildnis findet er Schutz in einem verlassenen Bus, der wie ein letztes Relikt aus der Zivilisation wirkt. Während der Film in der Gegenwart die letzten Lebenswochen Christophers verfolgt, fächert er in Rückblenden – eingeteilt in mehrere Kapitel – seine Vorgeschichte auf, erzählt aus Sicht seiner Schwester Carine. Ein geglückter Kunstgriff des Drehbuchautors Sean Penn, weil Carine einen grösseren Abstand zum Geschehen und somit den “Überblick” hat. Wir lernen Christopher als idealistischen Träumer kennen, der sich früh gegen seine fordernden Eltern wehrt. Sie wollen ihren Sohn in eine Juristen Karriere zwingen. Doch Chris spielt nicht mit. Er spendet das Geld, das für die Universität vorgesehen war, für wohltätige Zwecke, zerreist Ausweis und Kreditkarten, nennt sich Alexander Supertramp und zieht los, nach Westen, diese uramerikanische Bewegung. Sein Weg führt ihn von den Weizenfelder in South Dakota über einen verbotenen Bootstrip auf dem Colorado bis hin zu einem Hippiecamp in Kalifornien. Doch wichtiger als die Stationen sind die Menschen, denen er begegnet: zwei übrig gebliebene Hippies, ein hilfsbereiter, trinkfreudiger Farmer und eine junge Sängerin, mit der ihn eine vage Romanze verbindet. Das Zentrum des Films ist jedoch die Begegnung mit Ron, einem alten Mann, der wie ein Einsiedler lebt. In Christopher erkennt er einen Seelenverwandten. Aber der Versuch des Jungen, den Alten aus seiner Isolation zu reissen und ihm, in einem symbolischen Akt, auf dem Rücken einer Anhöhe zu zeigen, was er alles verpasst, scheitert.
In der Zwischenzeit ist die Erzählung in der Gegenwart fortgefahren. Die Kamera von Eric Gautier (Die Reise des jungen Che) fängt die Schönheit der Landschaft Alaskas in atemberaubenden Bildern ein. Doch es ist auch eine unbarmherzige Landschaft, die nicht mit sich spassen lässt. Christopher versucht zu jagen – erfolglos. Darum ernährt er sich von Pflanzen. Und macht einen folgenschweren Fehler.
Sean Penn sieht seinen Helden, den er nie als solchen inszeniert (dafür begeht er zu viele Dummheiten), als Nachfahre von Henry David Thoreau (1817–1862), diesen radikalen Nonkonformisten, der selbst zwei Jahre lang mit wenigen Hilfsmitteln in der Wildnis gelebt hatte. «Rather than love, than money, than fame, give me truth»: Thoreaus berühmter Ausspruch, der den Film überschreibt, dient auch Christopher McCandless als Aufforderung zu einer kompromisslosen, idealistischen Suche nach Sinn und Wahrheit, in die auch Jack Londons Beschreibung der Natur, in «Der Ruf der Wildnis» etwa, mit einfliesst. Dabei gehorcht Into the Wild durchaus den Konventionen des Road Movies: Die Reise, die auch immer eine Reise zu sich selbst ist, ist hier wichtiger als das Ziel. So erlebt der Zuschauer Christopher auf dem Weg nach Alaska als glücklichen Jungen, der besonders im Kontakt mit anderen Menschen auflebt und lernt. «You look like a loved kid», sagt einmal jemand zu ihm. Die Endstation in Alaska erweist sich hingegen als körperliche Herausforderung, der er nicht mehr gewachsen ist.
Emile Hirsch bringt uns Christopher auf aufregende Weise näher. Dabei verkörpert er ingeniös die ganze Bandbreite seines Charakters – vom Idealisten, der sein Ziel unbeirrt angeht, bis zum Egoisten, der seine Familie verletzt und die Gesellschaft vor den Kopf stösst. Später wird er, wie Christian Bale in The Machinist, zum Skelett abmagern, seine Augen scheinen förmlich im Kopf zu versinken. Eine bemerkenswerte schauspielerische Leistung!
Sean Penn, selbst idealistisch und kompromisslos, als Schauspieler und Regisseur, hat einen ernsthaften, anspruchsvollen, kraftvollen und beeindruckenden Film gedreht. Im Laufe der zweieinhalb Stunden, die Into the Wild dauert, wird klar, was ihm das Buch von Jon Krakauer bedeutet haben muss. «Ich war davon überzeugt, auf eine unvergessliche, zutiefst filmische Geschichte gestossen zu sein», so Penn nach Lektüre des Buches. Irgendwie musste er diesen Film einfach machen.