Dass Steve McQueen die Geschichte eines von Frauen durchgeführten Coups nicht auf herkömmliche Art erzählen würde, war zu erwarten. Nach Hunger, [art:251] und [art:159] hätte es überrascht, wenn er nun in Widows verfahren wäre wie jüngst Gary Ross, der mit seinem mit Frauen besetztem Ocean’s 8 nicht mehr als einen hübschen Farbtupfer zu einem etablierten Genre hinzufügte. Schon mit dem atemberaubenden Anfang deutet McQueen in eine andere Richtung, kreuzt zwei Handlungsstränge, von denen wir erst ahnen können, wie ungut sie aufeinander bezogen sind. Hier Szenen eines Überfalls, der aus dem Ruder läuft und mehrere Tote fordert. Dort Momentaufnahmen von Männern im Umgang mit ihren Frauen: Einer tauscht Zärtlichkeiten mit ihr aus; einer hat ihr blaue Flecken ins Gesicht geprügelt; einer ist kurz vor dem Ausrasten, weil sie ihren eigenen Willen hat; einer ignoriert sie schlicht.
Nach diesem unglaublich verdichteten Intro – scheinbar skizzenhaft hingeworfen, tatsächlich aber mit höchster Präzision auf den Punkt gebracht – beginnt die eigentliche Handlung von Widows, der auf der gleichnamigen britischen Miniserie von 1983 basiert. Im Zentrum stehen vier Frauen, die nichts miteinander gemeinsam haben – ausser einer Schuld, die ihnen durch die kriminellen Machenschaften ihrer toten Ehemänner hinterlassen wurde. Unter der Anführung von Veronica sind sie gezwungen, das Heft in die Hand zu nehmen – es nicht zu tun, wäre lebensgefährlich. Und so machen sie sich auf, jenen Coup zu landen, den Veronicas Mann nur noch aushecken, aber nicht mehr vollenden konnte.
So weit das absehbare Handlungsgerüst, geht es im Genre des Heist-Movies doch stets um die spektakuläre Vorbereitung und Durchführung eines Raubüberfalls (heist). Organisiert wird er meist vom Typ Edelganove, der aus letztlich lauteren Motiven handelt oder sonst wie das Herz auf dem rechten Fleck hat, sodass er unseres Wohlwollens sicher sein kann. Doch bei McQueen ist es mit der Sympathie mit den Verbrechern nicht weit her, ohnehin sterben sie ja nach wenigen Filmminuten. Auch der Coup selber interessiert ihn nur am Rande, und auf dessen Planung verschwendet er lediglich ein Minimum an Szenen. Was ihn eigentlich fasziniert, ist der Grund, der die Frauen zur unfreiwilligen Straftat zwingt. Ihn herauszukristallisieren, ist McQueens eigentliches Anliegen, und er verfolgt es mit unbestechlicher Kompromisslosigkeit. Der Grund liegt in einer Welt, deren Regeln von Alphamännern gemacht werden, obschon gerade sie unweigerlich an ihnen scheitern. In dieser Welt geht es um Imponiergehabe und Konkurrenz, allseitige Bereitschaft zur Gewalt und eklatanten Rassismus. Am meisten aber geht es – natürlich – um Macht, die es um jeden Preis zu erlangen oder zu erhalten gilt. In dieser Welt sind Frauen nur als angenehmer Nebeneffekt vorgesehen, und ihr Schweigen geht – wie es Marleen Gorris 1995 in Antonia’s Line formulierte – unbemerkt im Lärm der Männer unter.
Doch nun müssen sich Veronica und die anderen Gehör verschaffen, wenn sie überleben wollen. Was folgt, ist ein Akt weiblicher Selbstermächtigung. Ob ihr Coup gelingt, sei nicht verraten. Nur so viel: Als alles vorbei ist, begegnet Veronica einer Mistreiterin wieder und fragt sie, wie es ihr ergangen sei. Ein verhaltener Schluss, geprägt von Erleichterung, aber auch Erschöpfung und Trauer. Dabei ist die Frage alles andere als eine Floskel. Sie ist im wahrsten Sinn eine freundliche Geste, der einzige Moment der Menschlichkeit in Widows. Dass er erst am Ende geschieht und sich weder zwischen Männern noch zwischen Mann und Frau zuträgt, spricht Bände über eine Welt, in der die Frauen mit der Hinterlassenschaft der Männer zurande kommen müssen.
McQueens Film ist bis in die Nebenrollen hervorragend besetzt: Liam Neeson, Daniel Kaluuya, Colin Farrell und Brian Tyree Henry verkörpern ihre Figuren furchtlos unsympathisch. Bei den Frauen ist Viola Davis als Veronica einmal mehr grossartig, und der Part der Unterschätzten, die sich ungewollt auf eine moralische Gratwanderung begeben muss, ist ihr auf den Leib geschrieben. Ihr zur Seite stehen Elizabeth Debicki als stilles Wasser und Cynthia Erivo als energische Macherin. Vierte im Bund – und die vielleicht doppelbödigste Besetzung – ist Michelle Rodríguez, die sonst auf die toughe Actionlatina abonniert ist und in Genres auftritt, die ähnlich testosterongesättigt sind wie das Heist-Movie: In Filmen à la Fast and Furious wird sie gern als Mrs. Alpha besetzt, in Sci-Fi-Knallern imponiert sie muskelbepackten Marines, indem sie Aliens niedermäht. Das ist deshalb immer etwas selbstironisch, weil diese Rollen undenkbar wären ohne das Klischee des hypermaskulinen Superheteros an ihrer Seite – ein Klischee, das sie als bisexuelle Schauspielerin zugleich stützt und unterläuft. Ausgerechnet sie tritt mit Widows in einem Film auf, der nahtlos an ein Männergenre anzuschliessen scheint, nur um es mit Nachdruck aus den Angeln zu heben.
Denn während das Heist-Movie ein Film für Männer ist, macht McQueen einen Film über Männer. Seine Analyse ist messerscharf, sein Befund ernüchternd. Aber Widows ist eben auch ein Film über Frauen. Und die können sich sehr wohl wehren, wenn es sein muss. Doch der Regisseur weiss auch, dass die Welt ein gutes Stück besser wäre, wenn sie es gar nicht erst müssten.