Das wahre Arbeiten wäre wie die Melodie einer Orgel, wenn die Melodie einer Orgel mehr Orgeln und immer grössere Orgeln erschüfe. Arbeiten ist nichts anderes als aus dem Sterblichen überetzen in das, was weitergeht. (Ludwig Hohl, «Die Notizen»)
Hätte der Film, vorrangig aber nicht ausschliesslich der europäische, nicht begonnen, ausdrücklich sich selbst zu reflektieren, wäre es dem Theaterwissenschafter und Publizisten A. J. Seiler wohl nicht in den Sinn gekommen, Filme machen zu wollen. Die Konvention des Kinos wurde in England, in Frankreich aufgebrochen, und das löste den Aufbruch des Filmers Seiler aus. Plötzlich schien ein weites Feld vor einem intellektuellen Filmemacher zu liegen, der wie die Kollegen in England, Frankreich und Deutschland das Handwerk nicht gelernt hatte (und deshalb auch nicht mit Konvention geimpft war). Man konnte den Film erfinden. Kein anderer hat in der Schweiz so genau wie Seiler sagen können, was der Begriff «neuer Film» beinhaltete, und was er selber im Film suchte. Nach Siamo italiani hat der Kulturredaktor der «Weltwoche», Bruno Schärer, Seiler angeboten, über Film und Filme zu schreiben. A. J. Seiler hat akzeptiert mit der Einschränkung, dass er nicht über die Filme seiner Kollegen schreiben werde. Er begann, in den Spalten der Wochenzeitung öffentlich und unabhängig über Film nachzudenken; seine Kolumnen und kurzen Essays reflektierten ähnlich wie jene in der deutschen «Filmkritik », wie die Äusserungen von Alexander Kluge, die Befreiung des Films aus seiner «babylonischen Gefangenschaft».
«Ich meine, ein erstes Merkmal des neuen Films ist seine totale Voraussetzungslosigkeit im Formalen. Nicht mehr die Auflösung der konventionellen Formen beschäftigt Godard, Agnes Varda, Alexander Kluge, die Brüder Mekas oder Jean-Marie Straub, und es gibt kein einziges formales Prinzip, auch kein negatives, nach dem sich die Generationen des neuen Films auf einen Nenner bringen liesse. Das ist umso bemerkenswerter, als der Film noch vor fünfundzwanzig Jahren bis hinein in die Einzelheiten der Bilddramaturgie und der Montage einem formalen Kanon untertan war, der sich an Starrheit mit jenem des klassischen französischen Schauspiels durchaus messen konnte. (...) Der neue Film lebt in und aus der Reflexion auf den eigenen Reproduktionscharakter, der ihm als Selbsttäuschung bewusst geworden ist. Nur in der dialektischen Negation jeder direkten, «naiven» Reproduktion von Wirklichkeit billigt er sich selber Wirklichkeit, nein: Wahrheit zu. Insofern situiert sich der neue Film deutlich nach dem Sündenfall: er ist vertrieben aus dem Stand der Unschuld, die den Film einst der Selbsterkenntnis, der Erkenntnis überhaupt, enthob. ( ... ) Die Welt als Gegenstand bleibt ihm versagt, sofern er sich nicht selber als Gegenstand, als sein eigenes Gegenüber setzt und erkennt.» (Die Weltwoche, 5. Mai 1967)
(Bild: Im Lauf des Jahres)
Die Lust an Reflexion und Dialektik spricht aus diesem Text, in dem mit leichter Hand kulturelle Erfahrungen seit 1789 miteinander in Beziehung gesetzt werden: die Bemerkungen über den Verlust der Unschuld könnten direkt aus Heinrich von Kleists Aufsatz «Über das Marionettentheater» in den Essay in einer Wochenzeitung gekommen sein (die in den letzten zehn Jahren, was den Film betrifft, die Welt, die sie im Titel trägt, bedenklich reduziert). Die gleiche Lust an der Dialektik – Setzen, Entgegensetzen, Auseinandersetzen – hat Seiler im Film gesucht, auf diesem weiten offenen Feld, das sich in der Schweiz allerdings als steiniger Acker erwies. Im gleichen Jahr 1967 hat er geschrieben, an dem französischen Gemeinschaftsprojekt Loin du Vietnam würde er gerne mitarbeiten, und sei es als Kabelträger.
Der Aufbruch zum «neuen Film» ist – nicht nur bei Seiler – eine Geste der Emanzipation und der Dekolonisation gewesen. So kohärent wie die Gründer des «neuen Schweizer Films» haben beispielsweise die Cineasten der achtziger Generation nicht mehr über ihre kulturelle Identität nachgedacht. Hätte man den Tanner, Goretta, Soutter, Seiler, Murer, Yersin, Reusser in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre gesagt, in fünfundzwanzig Jahren würden amerikanische Drehbuchspezialisten eingeflogen werden, die dem Schweizer Film auf die Sprünge helfen sollten, hätten sie es für einen dummen Scherz gehalten. Denn es ging ja genau darum, dass jeder lustvoll seine eigenen Lösungen und Fehler machte, dass jeder lernte. An dramaturgische Milchmädchenrechnungen und erprobte Strickmuster glaubte in Europa nur das Fernsehen.
(Bild: In wechselndem Gefälle)
Die zwei ersten Auftragsfilme (Auf weissem Grund, In wechselndem Gefälle, 1961/62) sind, obwohl doch eine raffinierte Stilisierung ins Auge springt, von den Auftraggebern und den Zu chauern oft recht naiv gelesen worden. Sie nahmen das «schöne Bild» dieser Filme für «face value», al schöne Abbild der schönen Schweiz. Unfähig, Seilers parado er Intervention im Gebiet des Tourismuswerbefilm zu folgen, verpassten sie das eigentlich Neue daran.
Es ist nicht nur ungenau, sondern falsch, wenn ich nur Seiler sage, wenn von den Filmen die Rede ist. Die Aufsätze hat er allein geschrieben, aber die Filme waren Teamarbeit. Und diese Teamarbeit war nicht einfach Arbeitsteilung: Seiler Regie, Rob Gnant Bild, June Kovach Montage. Seiler hatte keine Angst vor Auseinandersetzungen vor, während und auch nach dem Verfertigen der filmischen Texte. Da er den mühsamen Diskussionsweg gewählt hat – Filmemachen ohne Galons und Epauletten, wie Godard agte –, ja, auch das hat mit einer politischen Überzeugung zu tun, an der er auch dann festhielt, wenn einsame Entscheide effizienter gewesen wären. Die Dynamik dreier elbstkritischer Intelligenzen, dreier Sensibilitäten, dreier Systeme der Wahrnehmung und dreier Lebenserfahrungen versprach mehr als eine einsame Vision. «Gemeinsam sind wir stark» war damals ein geläufiger Slogan; er fasste nicht bloss eine Addition, sondern Potenzierung parolenhaft zusammen.
(Bild: Unser Lehrer)
Seiler und Rob Gnant hatten schon in den fünfziger Jahren mit eigenwilligen Reportagen für die illustrierte Zeitung «Die Woche» gearbeitet, welche die «filmische Montage» der Bildreportage, die in den dreis siger Jahren erfunden und in der Schweiz vor allem von der «Zürcher Illustrierten» gepflegt worden war, weiter entwickelte. Die Journalisten und die Fotografen trieben in Zusammenarbeit mit dem Grafiker Jacques Plancherel die funktionelle Montage jedenfalls weiter als zu jener Zeit üblich. June Kovach, die Pianistin, hatte ein besonderes Gespür für Timing und Rhythmus. Film ist eine «musikalische Kunst». Wer nur hat einmal gesagt, am Film störten ihn nur die Bilder?
Seiler hätten die Bilder oft gestört, wenn Rob Gnant nicht die gleichen gesucht hätte wie alle Beteiligten. Im Rückblick lässt sich eine gewisse Angst vor starken Bildern vermuten, vor Bildern, deren hartnäckiger Eigenwert die dialektische Montage erschwert oder belastet hätte. Am auffälligsten scheint mir dieses (den Autoren allenfalls unbewusste) Phänomen in Unser Lehrer (1971) und Die Früchte der Arbeit (1977) zu sein. Ich frage mich, ob Rob Gnant bei der Arbeit mit Seiler eingeworfen hat, was er bei anderen Autoren manchmal sagt: «Ich sehe kein Bild hier». In den Filmen von Seiler/Gnant/Kovach war ein Bild ein Wort oder ein Satz in einer zu (er)findenden zusammenhängenden Rede. Nur in den Auftragsfilmen durfte es manchmal autark sein.
Das perfekteste Zusammenspiel der Intelligenzen und Sensibilitäten ist dem Team, scheint mir, in den sechziger Jahren mit Musikwettbewerb (1967) gelungen. Ein fast hitchcockscher Suspense liegt über den zweiundsiebzig Minuten Pianoausscheidungskampf; der Film ruht und rollt nach seinem eigenen Bedürfnis und nach den Regeln der Veranstaltung. Zwei (einmal sogar drei) Kameras mit Direktton haben die Agilität von Reportagekameras. (Dass der Ton die Perspektivenwechsel mitvollzog und damit in der Montage eine Art geometrische Stereophonie herstellbar wurde, erstaunt bei diesen Autoren nicht.) Rob Gnant, der Kameramann mit dem intuitiven, nicht lernbaren Vorausblick – nie schwenkt er in die falsche Richtung, und immer lässt er den sich diskret abzeichnenden nächsten Bewegungen der Darsteller genug Raum – ist nahe an dem fotografischen Stil, den er in der Zeitungsarbeit entwickelt hatte. Fritz Maeder, der statischere Kameramann, der sein Handwerk bei Kurt Blum gelernt hatte, kadriert klassischer, seine Bilder «sitzen». Musikwettbewerb ist als eine grosse Sonate montiert, fiebrig, nervös, wenn es der Moment und die Sache verlangt, geduldig und eindringlich dann wieder. Dazu ist der Film eine kritische Auseinandersetzung mit den Standards, die in der klassischen Musik vielleicht noch trostloser sind als im Film. Schliesslich darf man diesen Essay-Film als Chiffre für eine Gesellschaft lesen, die einerseits auf den Wettbewerb und andererseits auf die Regeln und auf Autoritäten, die sie anwenden, setzt.
(Bild: Die Früchte der Arbeit)
Mit dem von einigen Franzosen vertretenen und praktizierten «cinema-verite» haben Musikwettbewerb und auch die anderen Dokumentarfilme des Teams wenig zu tun. Seiler hat dem damals modischen Begriff, der philosophisch ohnehin fragwürdig war, den von den kanadischen Dokumentaristen geprägten «cinerna direct» immer vorgezogen. Eins-zu-eins-Abbildung interessierte ihn eigentlich nicht; real time macht nur einen Sinn, wenn diese Kongruenz von Erzählzeit und erzählter Zeit eine gewisse überraschende Einsicht verspricht; real time ist in Seilers Ästhetik eine Technik der Pointe.
Seine Politisierung, betont Seiler, habe eigentlich recht spät eingesetzt, erst mit der Arbeit an Siamo italiani, welchen Film er keineswegs als ein politisches Manifest oder dergleichen gedacht hatte. Siamo italiani hat sich der poetischen Neugier eines wachen Zeit genossen einfach aufgedrängt. Neue Einsichten stellten sich mit der Herstellung des Filmes ein. Diese Herstellung war ein vielschichtiger Lernprozess. Und genau das ist es, was den Film recht gut hat altern lassen. Von Fifteen (1968) und Unser Lehrer (1971) würde ich das nicht unbedingt behaupten.
Nie hat Seiler einen Film gemacht, der nicht mit seinen Lebensumständen, seinem sozialen und politischen Engagement zusammenhing. Er war keiner, der wie ein Fernsehdokumentarist vom einen aktuellen oder brisanten Thema zum nächsten sprang, eher schon ein Forscher. Deshalb brauchten er und June Kovach auch immer wieder so viel Zeit, bis ein neuer Film stand: drei Jahre für Unser Lehrer, drei Jahre für Wer einmal lügt oder Viktor und die Erziehung, drei Jahre für Die Früchte der Arbeit. Ebenso wichtig wie die Schul- und Erziehungsfilme war eben Seilers Engagement in der Freien Volksschule Zürich; wenn er (mit Peter Bichsel) einen Film über die Lehrerschule machte, spielte die Erfahrung eine gleich gewichtige Rolle wie die theoretische Aufarbeitung (Scuola di Barbiano, Summerhill und Ivan Illichs Projekt der Entschulung der westlichen Gesellschaft) zum Beispiel.
Die Aufgabe des intellektuellen Filmgestalters, dem die Zeit eine Chance des Ausdrucks zuspielte, bestand für Seiler und Kovach in der Gründlichkeit. Manchmal hat diese Gründlichkeit nicht viel Charme. Deshalb sind Wer einmal lügt oder Viktor und die Erziehung von June Kovach und Die Früchte der Arbeit von A. J. Seiler wohl auch unterschätzt worden.
(Bild: Fifteen)
Noch einmal der Essay «Film als Dialektik und Reflexion», Mai 1967: «Die Welt als Gegenstand bleibt dem Film versagt, sofern er sich nicht selber als Gegenstand, als sein eigenes Gegenüber setzt und erkennt. Auch Gesellschaftskritik ist im neuen Film nur möglich um den Preis der Selbstkritik: der Autor elber al Teil der Gesellschaft, die er einer Kritik unterzieht.» Die grösstangelegte und differenzierteste Erfüllung dieses Entwurfs vom «neuen Film» ist zweifellos Die Früchte der Arbeit, wieder eine symphonische, musikalische Struktur, welche die Lebenslinie des Autor, einen vorläufigen Stand der Reflexion – der Erkenntnis und des Irrtums-, die Geschichte der Arbeiterbewegung in der Schweiz, eine exemplarische Auswahl von Arbeitern – Lebensalter, Grad der Politisierung und der Mitsprache am Arbeitsplatz – und den Tagesablauf der Familie Fierz ineinander verwebt und gegeneinander setzt, und die dergestalt immer von den Menschen und ihrer Sache, von dem selber in Gang gesetzten Prozess und von den Perspektiven des Autors redet. Es ist merkwürdig, wie selten Die Früchte der Arbeit mit Jonas qui aura vingtcinq ans en l'an 2000 in Verbindung gesetzt worden ist, wo Alain Tanner die Diskussion in seinem Innern ähnlich vielstimmig in die Welt projiziert.
So merkwürdig vielleicht ist es nicht: in ganz Europa, und nicht nur im Film, hat die Lust an der dialektischen Reflexion der Sachen in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre nachgelassen. Die modernen, die aufklärerischen Konzepte, vor allem auch die Ästhetik der Montage, sind langsam in Verruf geraten, lange bevor Lyotard das Ende der «grand recit » feststellte. In Alain Tanners Werk lässt sich nach Jonas qui aura vingtcinq ans en l'an 2000 ein Knick beobachten; er kommt nicht von ungefähr.
Im gleichen Jahr wie Seilers Die Früchte der Arbeit ist June Kovachs Wer einmal lügt oder Viktor und die Erziehung herausgekommen. Seiler nennt Kovach als Cutterin, Kovach Seiler unter den Titeln «Buch» und «Produktionsleitung», aber sie signieren einzeln. Nimmt man einmal an, dass beide Filme ihr Konzept erfüllen – und es besteht kein Grund, dies zu bezweifeln–, müssten in den beiden Filmen die Mikrounterschiede der beiden Wahrnehmungs- und Ausdrucksgrundmustern der beiden Autoren greifbar werden. Zunächst allerdings wird das Verbindende, der Konsens, deutlich, die «musikalische» Komposition und, man müsste sie zuerst nennen, die aufklärerische Intensität, die Absicht der Klärung und der Sinnvermittlung. Sie sind keine Filmer, die stumm, mit aufgerissenen Augen vor ihrem Stoff stehen. Sie «funktionieren» über ihr humanes Mitgefühl, und sie suchen gesellschaftliche Wirkung. In Die Früchte der Arbeit stellt Seiler die Frage: «Ist das Elend aus?», und er weist nach, dass es «nur» andere Formen angenommen hat. June Kovach stellt in Wer einmal lügt oder Viktor und die Erziehung das ganze Bestrafungssystem der Gesellschaft in Frage.
(Bild: Mixturen)
Mir scheinen allerdings in der Erinnerung auch Unterschiede auf, die sich am Schneidetisch wohl nachweisen liessen. Seiler setzt mehr als Kovach auf eine Art brechtsche Parataxe, auf die Gleichwertigkeit der Teile; er ist epischer und «materialistischer» (im Sinne von «stoffhaftig», «gewichtig», den Widerstand der Erde gegen die Ideen betonend) als June Kovach, die in ihrem Film – ich würde meinen, auf eine originelle, noch nie dagewesene freie Weise – mit dem dokumentarischen Material umgeht. Eine extreme Verschachtelung und Überlagerung der Bilder und der Töne nehmen ihnen viel von ihrem (niederziehenden) Gewicht; der Film hebt mehr als der ihres Mannes in die Welt der Reflexion ab und wird auf eine gewisse Weise leichter als Die Früchte der Arbeit. Kovach mixt O-Ton, Off-Ton und Kommentar(e) in virtuoser Weise, während Seiler sich diese Ablösung und Abstraktion nicht ganz gestattet.
Man könnte nun über die Herkunft und die kulturelle Individuation und Identifikation zu spekulieren beginnen, über die Schweiz und über Kalifornien und Chicago, über Sesshaftigkeit und Emigration samt Erlebnis des Holocausts, über Verwurzelung und Weltläufigkeit, über vorsichtige Bodenständigkeit und intensive Gesprächskultur. Dass schweizerischer Protestantismus und amerikanische städtische jüdische Emigrantenkultur ebenfalls hinter den zwei verwandten, und in vielen Diskussionen errungenen, aber doch verschiedenen Ausprägungen stehen, kann ebenfalls vermutet werden.
Die Gemeinsamkeit scheint mir immerhin stärker zu sein als die Abweichung. Und die stärkste Gemeinsamkeit ist, neben den musikalischen Konstruktionsprinzipien oder -referenzen ihrer Hauptwerke, die spürbare Überzeugung, dass gesellschaftliche Änderung nötig, dass die Welt mehr denn je ein Werk der Menschen ist, eine Aufgabe, der sich niemand entziehen darf. Kurz, dieser aufklärerische, utopische Impetus.
(Bild: Siamo italiani)
June Kovach und A. J. Seiler sind gegenüber den Kapitulationen und Absolutionen (den «voreiligen Versöhnungen») der Postmoderne skeptisch geblieben. Und als Max Frisch wenige Jahre nach Die Früchte der Arbeit die Niederlage der kritischen Vernunft, der Auf klärung eingestand, hat Seiler mit Palaver, Palaver trotzig noch einmal die Macht der Zukunftsgedanken, der Utopie eines Weltfriedens beschworen, indem er die Menschen, welche die Armeeabschaffungsinitiative trugen, mit spürbarer Zuneigung ins Bild brachte.
Auch dieser Film spricht aus der eigenen Lebenserfahrung des Autors: Offizier in jungen Jahren, in einen Betreuungsdienst versetzt wegen eines Rückenleidens, hat er sich, lesend, reflektierend, filmend, immer weiter vom militärischen Denken entfernt, so weit, bis er dank eines psychiatrischen Gutachtens vom Dienst freikam, später den Zivilschutz verweigerte und deshalb auch zu einer kurzen Gefängnisstrafe verurteilt wurde.
Noch enger mit der eigenen Geschichte und mit der Treue zu ihr ist Ludwig Hohl – Ein Film in Fragmenten (1982) verbunden. Der ganze Film scheint ausgerichtet zu sein auf zwei hohlsche Chiffren menschlicher Existenz: «Gebirge» und «Arbeiten».
Das Leben und die würdige menschliche Existenz sind eine umsichtige, alle Umstände berücksichtigende Arbeit, und die wahre, die nichtentfremdete Arbeit wäre «wie die Melodie einer Orgel, wenn die Melodie einer Orgel mehr Orgeln und immer grössere Orgeln erschüfe»; selbst wenn ein Einzelner, wenn sogar die Menschheit dieses Ideal, diese Utopie erreichte, würde noch einmal gelten: «Lasst uns auch daran ein wenig denken: Es gibt immer ein Höher-oben». Das ist Ludwig Hohls Fassung der idealistisch-romantischen Utopie der unendlichen Progression. Und letztlich hat Seiler von dieser Position nie abgelassen, obwohl er immer wieder das «Gewicht der Welt» betont hat. Sein Hinweis auf den Verlust der Unschuld (und die Arbeit, die nötig ist, um sie wieder zu beginnen), der diesen Aufsatz einleitet, ist Beweis genug.
1960 hatte der gelernte Literat A. J. Seiler erstmals von seiner «Erweckung» durch die «Notizen» von Ludwig Hohl geschrieben, durch dessen Reflexionen über das wahre Leben, das darin besteht, den Tod, die Krankheit zum Tod, durch wahre Arbeit zu überwinden.
Über zwanzig Jahre später ist der Porträt-Film entstanden, der viel mehr ist als eine der üblichen Künstler-Hagiographien: der Versuch nämlich, Aufklärung und Befreiung in das Bild der «Bergfahrt» zu fassen, der Bergfahrt, die letztlich jeder einzeln antreten muss, und die deshalb so gefährlich ist, weil ihn «Über-Mut» jederzeit ins Nichts fallen lassen kann.
Musikwettbewerb und Ludwig Hohl gehören zusammen, auf gar nicht so rätselhafte Weise. Die Filme handeln vom richtigen und vom falschen Leben.
Wenn man Seiler sagen würde, die Geschichten mit dem richtigen und dem falschen Bewusstsein seien doch alle gelaufen, weil «alles geht», könnte er nie beipflichten. Niemandem und nichts wird es gelingen, aus dem Utopisten einen Zyniker zu machen. Das wäre der Tod, den Ludwig Hohl meint.
(Titelbild: Siamo italiani; letztes Bild: Ludwig Hohl – Ein Film in Fragmenten)