Jeton, ein Roma-Flüchtling aus dem Kosovo, steckt mitten in seinen Hochzeitsvorbereitungen, als er auf der Autobahn von einer Polizeikontrolle aufgegriffen wird; ihm fehlt die aktuelle Vignette! Ein kleines Vergehen mit schweren Folgen: Jeton hat keine Aufenthaltsbewilligung und wird in die Haftanstalt Frambois in Genf gesteckt – die Endstation für Sans-Papiers, die hier auf ihre Ausschaffung warten. Die «Administrativhaft» kann bis zu 24 Monaten dauern. Die abgewiesenen Asylsuchenden haben keinerlei Verbrechen begangen, und doch werden sie eingesperrt und bewacht, mit der alleinigen Perspektive der Rückschaffung in ihr Heimatland.
Fernand Melgar konnte mit La forteresse (2008) einen der grössten Erfolge der schweizerischen Dokumentarfilmgeschichte landen. Der Film folgte dem Beginn der administrativen und juristischen Spirale von Asylbewerbern in einem Schweizer Empfangszentrum. Auch in Vol spécial gelingt es Melgar, sich Zugang zu einer verborgenen Welt zu verschaffen, und die Szenen, deren Zeuge er wird, sind von einer emotionalen Wucht, die wehtut. Der Film entwickelt von Beginn an einen dramaturgischen Würgegriff, der einen kaum atmen lässt und die Verzweiflung der Insassen von Frambois erfahrbar macht. Das Porträt dieser umstrittenen Institution sorgte am Filmfestival in Locarno bereits für viel Diskussionsstoff und erhielt den Preis der Ökumenischen Jury und der Jugend-Jury. Melgar zeigt einen Gefängnisalltag, der deprimierender nicht sein könnte, und Kameramann Denis Jutzeler findet dazu starke, beobachtende Bilder in den Zellen, im Hof und im Besuchszimmer. Fast erholsam wirkt da die leise Poesie verschneiter Landschaften oder über Gitterstäbe entschwebender Swiss-Flugzeuge.
Die ästhetische Qualität dieser Aufnahmen steht in schmerzlichem Kontrast zu den menschlichen Schicksalen, die sie porträtieren. Der junge Jeton steht sichtlich unter Schock, als er in sein Zimmer geführt wird und der Gefängnisdirektor Jean-Michel Claude ihm die Hausregeln erklärt. Sauberkeit sei oberstes Gebot; sich selber immer gut waschen, sonst leide die Moral, erklärt Claude und tätschelt Jeton aufmunternd die Wange. Der paternalistische Duktus und der unangebracht intime Körperkontakt weckt ein erstes Unbehagen, das sich schleichend, wenn auch in sehr unterschiedlichem Grade durch alle Begegnungen zwischen Wärtern und Häftlingen zieht. Doch wie human und harmonisch lässt sich ein solch ungleiches Verhältnis überhaupt gestalten? Die Rhetorik der Polizisten und des Direktors ist oftmals verstörend selbstgefällig, ja beschönigend. Ein Polizist hofft gar auf das Verständnis eines Häftlings, der sich beim Transport über die zu eng geschnallten Handschellen beklagt. «Ich bin kein Verbrecher», murmelt Ragip, Vater von drei Kindern, der als Saisonnier über zwanzig Jahre lang der Schweiz als Arbeitskraft gedient und Steuern bezahlt hat. Es stellt sich die unbequeme Frage, warum unser Asylgesetz zulässt, dass seit Jahren integrierte Ausländer plötzlich von ihren Familien getrennt und abgeschoben werden. Wer ist Schuld an diesen Missständen? Oder, noch schlimmer, wird hier Verantwortung einmal mehr auf einen sich gnadenlos langsam drehenden Administrationsapparat, indem jeder nur seine Arbeit macht, abgeschoben?
Der Film bietet hierzu keine Antworten, unterschlägt bewusst Informationen und kreiert eine Stimmung der Willkür und der Hilflosigkeit, die uns emotional klar auf die Seite der Sans-Papiers schlägt. Erst auf der Website zum Film findet man Zusatzinformationen. Hier erfahren wir, dass das Schweizer Stimmvolk 1994 der Inhaftierung von irregulären Ausländern ab 15 Jahren zugestimmt hat. Waren sich die Bürger der harten Konsequenzen dieser Abstimmung wirklich bewusst?
Wer sich in Frambois gegen ein erstes Ausreiseangebot wehrt, dem droht die gewaltsame Ausschaffung mit dem Sonderflug. Für diese letzte Option mietet das Bundesamt für Migration (BFM) ein Flugzeug, das die Auszuschaffenden nacheinander in ihre Heimatländer zurückbringt. Die «Sicherheitsvorkehrungen» auf diesen Flügen sind in der Schweiz von einer Grausamkeit, die den Begriff Deportation nahe legt. Kein anderes Land in Europa wendet eine ähnlich harte Praxis dieser Rückführungen an, und man versteht die Insassen von Frambois, wenn sie den Worten des Direktors, «es ist alles ruhig, respektvoll und reibungslos verlaufen», misstrauen. Melgar hat keine Dreherlaubnis des BFM erhalten, einen solchen Spezialflug zu filmen. Seiner Dokumentation tut das gut, denn die Bilder in den Köpfen sind von beklemmender Kraft, als die schockierten Insassen erfahren, dass ein Nigerianer während des Transportes ums Leben kam.
Obwohl sich Melgar selber gern als «fly on the wall» definiert, ist Vol spécial kein objektiver Film – er soll es auch nicht sein, denn er will erschüttern und politisches Umdenken provozieren. Die Frage nach der Verantwortung jedes Einzelnen stellt sich hier dringlich und ganz im Sinne eines Max Frisch, der als kritischer Zeitzeuge stets die Scheinheiligkeit und die Feigheit der Schweiz in politischen wie gesellschaftlichen Belangen entlarvte. Dies ist das grosse Potential dieses Films, der des Schweizers kritischen Geist wecken und ihn wappnen soll gegen die Xenophobie, die immer wieder von SVP-Wahlkampagnen geschürt wird. Und gerade deshalb bleibt die wohl naive Hoffnung, dass sich Melgars erschütternde Aufklärungsarbeit nicht nur auf die – bereits bekehrten – linken Intellektuellen beschränken, sondern das kollektive Gewissen aller Schichten herausfordern wird.