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Vitus

Der «Traum vom Fliegen» und die Buben: Sie haben Murer durch sein ganzes bisheriges Schaffen begleitet. Der «Traum vom Fliegen», synonym gesetzt mit der «Lust zum Ausbrechen».

Text: Irene Genhart / 01. Jan. 2006

In seinem neuen Spielfilm Vitus erzählt Fredi M. Murer, wie ein märchenhaft begabter und deswegen von seinen Eltern um die Kindheit gebrachter Bub sich seine Freiheit zurückerobert. Er streift dabei leichtfüssig Themen und Sujets, die ihn seit seinen ersten Filmen beschäftigen.

Vor 44 Jahren hat Fredi M. Murer seinen ersten Film gedreht, eine 35-minütige, schwarzweisse Studie über einen elfjährigen Buben, der im Spiel mit seinem Modellflugzeug in einer Kiesgrube landet. Marcel hiess sein erster Protagonist, und schlicht Marcel titelt denn auch sein erster Film. Nun stellt Murer einen neuen Film vor: Vitus. Auch dieser trägt den Namen seines Protagonisten, eines Knaben, der sich zum Filmauftakt auf einen Flugplatz schleicht, eine kleine Propellermaschine besteigt und, noch bevor der zufällig anwesende Mechaniker intervenieren kann, neckisch grüssend von dannen fliegt. Der «Traum vom Fliegen» und die Buben: Sie haben Murer durch sein ganzes bisheriges Schaffen begleitet. Der «Traum vom Fliegen», synonym gesetzt mit der «Lust zum Ausbrechen» und verstanden als Reaktion auf eine Gesellschaft/Welt, in der einiges schief läuft, durchzieht als roter Faden das gesamte Filmwerk des ursprünglich aus der Innerschweiz stammenden Filmemachers. Und die Kinder, stets zu verstehen als Nachkommende, sind anzutreffen in seinen Spielfilmen Vollmond (1998) und Höhenfeuer (1985), im Dokuporträt Christopher und Alexander (1973) und in den Dokumentarfilmen Wir Bergler in den Bergen sind eigentlich nicht schuld, dass wir da sind (1974) und Der grüne Berg (1990).

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Vitus ist ein Film, dessen Kommen sich in Murers Werk seit Jahren ankündigte. Am deutlichsten in Vollmond, in der Szene, in welcher das kleine Mädchen dem blinden Klavierstimmer die Augen zuhält und wissen will, was er «sieht». Er sähe einen Raum voller Knaben und Mädchen, meint der Blinde, und auf dem Boden zerknülltes Papier. Und dann, sagt er, ist «da unter dem Lüster noch einer, der ist gekleidet wie der kleine Mozart. Und er spielt auch so …» Nun ist dieser «kleine Mozart» alias Vitus da, der Name, meint Murer, habe sich durch viele Drehbuchfassungen hindurch hartnäckig gehalten. Er ist ein Bub, der als Sechsjähriger schon Klavier spielt, als ob die Götter seine Finger bewegten. Und der, als seine musikalische Höchstbegabung und seine überdurchschnittliche Intelligenz bestätigt sind, von der Wunderkindmama im Vollzeit-Job gefördert, Klasse um Klasse überspringt, bis er im Primarschulalter schon aufs Gymnasium geht. Doch da wird Vitus, der anstelle von Jeans und T-Shirt lieber Hemd und Krawatte trägt, von den anderen Kindern verlacht und verstossen. Und seine schulische Unterforderung führt dazu, dass sich Vitus mit unverschämter Arroganz jedem Mitmachen am Unterricht verweigert. Als «ein Knabe, auf der emotionalen Entwicklungsstufe eines Kindes, aber mit der Intelligenz, dem Wissen und dem Können eines Erwachsenen», umschreibt Murer seinen Protagonisten. Und fügt bei, dass Vitus eine fiktive Figur sei, ein erfundenes Wunschkind sozusagen, weil er selber als Schüler das Lernen als unendlich mühselig empfunden habe und sich nichts sehnlicher gewünscht habe, alles einfach sofort immer schon zu können. Gleichzeitig betont Murer aber auch, dass «Spielfilme immer auch ein wenig Dokumentarfilme über die Darsteller» sind. Das gilt nie mehr als in Vitus, diesem Film, den Murer nicht als Aufklärungsfilm über Hochintelligente verstanden haben will, sondern nur als ein «Film über dieses spezifisch märchenhaft begabte Kind».

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Vitus nun also steht und fällt mit seinem Hauptdarsteller, beziehungsweise seinen Hauptdarstellern: Teo Gheorghiu und Fabrizio Borsani. Borsani, der Vitus als Sechsjährigen spielt, besucht im wirklichen Leben den Kindergarten. Er ist charmant, intelligent, entwickelt vor der Kamera eine Gelassenheit, die manchem erwachsenen Profi fehlt – und er spielt, auch wenn im Film zumindest phasenweise doch jemand anders an seiner Stelle in die Tasten greift, schon verblüffend gut Klavier. Murers Besetzungs-Glücksfall aber ist der 1992 als Kind rumänisch-stämmiger Eltern in Männedorf geborene Teo Gheorghiu, der Vitus als Zwölfjährigen spielt. Höchst musikalisch und hoch intelligent hat Teo Gheorghiu im Alter von fünf Jahren mit dem Klavierspiel angefangen und studiert seit 2001 an der auf musikalisch hochbegabte Kinder spezialisierten Purcell-School in London. Er hat verschiedene Meisterkurse besucht und Piano-Wettbewerbe gewonnen und im Rahmen der Dreharbeiten zu Vitus sein Debut in der Zürcher Tonhalle gegeben. Teo Gheorghiu nun also spielt Vitus. Intelligent, sensibel – aber auch so, dass etwas Befremdliches, Melancholisches von ihm ausgeht. Was unter anderem daran liegt, dass Vitus, wie die Kinder in Murers Filmen immer, wenig oder nichts zu lachen hat.

Denn Vitus ist auch ein Film über den Umgang der Eltern mit ihren Kindern; heisst: der derzeit «herrschenden» Generation mit der ihr nachfolgenden; auch das ein beliebtes Murer-Thema. Es ist kein inniges Verhältnis, das die Generationen in Murers Filmen verbindet. Die Eltern leben in ihrer Welt, die Kinder in einer anderen; und das Verhängnis, das sich anbahnt, gründet darin, dass die beiden Welten sich berühren, die Kinder mit Erreichen der Pubertät in die Welt der Eltern vordringen müssten, sich an den da herrschenden Regeln aber stossen. In Höhenfeuer bringen die Geschwister im Versuch ihr (kindliches) Glück zu bewahren, ihre Eltern um. In Vollmond verweigern sich zwölf Kinder dem Übergang ins Erwachsenenleben, indem sie spurlos verschwinden. Auch Vitus verweigert sich. Doch seine Verweigerung ist systemimmanent; Murers Kritik an Zeit und Gesellschaft, in der 1969 gefertigten Big-Brother-Is-Watching-You-Persiflage 2069, der Science-Fiction-Mär Grauzone (1978), aber auch in Vollmond noch unverbrämt offen betrieben, ist in Vitus versteckt: Mit einem in tiefer Nacht im Gewand des Ikarus’ vollzogenen Sprung aus dem Kinderzimmerfenster rettet Vitus sich in ein neues Leben. Sein Intelligenzquotient ist nach dem schweren «Sturz» aufs Messbare geschrumpft, sein Klavierspiel klingt kindsgerecht lausig.

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Dafür darf Vitus nun Kind sein, mit Gleichaltrigen die Schulbank drücken, Jeans und Sweatshirt tragen. Dass Vitus noch immer Vitus ist, weiss ausser ihm bloss noch einer: sein grundgütiger, schlitzohriger, mit der Weisheit älterer Menschen geschlagener und von Bruno Ganz wunderbar einfühlsam gespielter Grossvater. So einen Grossvater, einen Erwachsenen, der die Kinder versteht und sich auf ihre Seite schlägt, hat es bei Murer noch nie gegeben. Von Beruf Sargschreiner, baut der Grossvater für Vitus erst einen Bumerang, später Ikarus-Flügel. Er teilt mit ihm den Traum vom Fliegen, seine kleinen Geheimnisse und später sein grosses, und er steht Vitus bei, damit er als «Phantom der Börse» seine Familie retten kann. Grossvater ist Vitus’ wichtigste Bezugsperson, sein bester Freund. Seine grosse Liebe aber ist seine «Babysitterin» Isabel, eine Figur, die allein durch ihren Namen auf die Schwester Belly (Koseform von Isabelle) aus Höhenfeuer verweist.

Von einer «Mann» oder eben «Menschwerdung» im Zyklus eines Jahres erzählte Höhenfeuer, von einer «Mensch-», aber noch keiner «Mannwerdung» im Laufe einer Kindheit erzählt Vitus. Und wie Isabel eine Seelenverwandte der höhenfeuer-Belly ist, so ist Vitus’ Vater, der Hörgeräte-Erfinder Leo, der Vitus «Fledermaus-Ohren» schenkt, die ihm ermöglichen, aus dem Kinderzimmer die Gespräche der Erwachsenen in der Stube zu belauschen, ein Verwandter des Abhörspezialisten Alfred M. aus Grauzone. Und seine in einem Verlag als Übersetzerin arbeitende Mutter eine Parallelfigur zu der als Unterwasserarchäologin tätigen Mutter von Toni in Vollmond. Vitus ist Kumulation: Zusammenfügung und Weiterführung von Geschichten, Themen und Sujets, die Murer in seinen bisherigen Filmen berührte. Ein «Hörfilm», in dem Musik, mit «dem warmen Herz oder kühlem Verstand gespielt», als Symbol für Kreativität und für die menschliche Freiheit gemeinhin steht; ein glühendes Plädoyer auch dafür, dass Kinder einfach Kinder sein dürfen.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2006 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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