Die 54. Ausgabe des Dokumentarfilmfestivals in Nyon warf mit seinem Fokusprogramm einen Blick über die Grenzen des Realen hinaus in die Welt der Fiktion. Sowohl von Alice Rohrwacher (Invitée spéciale) als auch von Lucrecia Martel (Invitée d’honneur) wurden einige Spielfilme gezeigt. Wie Emmanuel Chicon, Mitglied des Auswahlkomitees, feststellt, befindet sich das Feld des Dokumentarischen ohnehin in Bewegung: Deshalb liege der Fokus des Festivalprogramms eher auf hybriden Formen filmischen Schaffens. Als Kriterium für die Auswahl gelte der dokumentarische Stil, der sich in der filmischen Geste zeigt – in der Relation zwischen Zeigen und Erschaffen: «When you put a camera you can’t expect to be invisible. You are creating characters through the lens», erklärt Chicon.
Diese «convergence of the form» kann sich auf mehreren Ebenen abspielen, so ist jeder Film ein Spiegel seiner Zeit, seiner Schöpfer und natürlich auch der vorfilmischen Realität im Moment der Aufnahme. Im Spielfilm Le Meraviglie von Alice Rohrwacher wird mittels der Geschichte der jungen Gelsomina, die in einer Aussteigerfamilie auf einem Hof in Umbrien aufwächst, die Realität traditioneller Kleinbetriebe aufgezeigt. Die Honigproduktion der Familie entspricht nicht modernen Hygienestandards, wodurch sie in finanzielle Notlage gerät. Die gescheiterten Hoffnungen der Aussteiger:innen werden nochmals deutlich, als ein Freund der Eltern zu Besuch kommt und ihnen vorwirft, ihre politischen Ziele aus den Augen verloren zu haben. Das erträumte Ideal der Selbstversorgergemeinschaft scheitert an realen Problemen und den Zukunftsaussichten der nächsten Generation.
Le Meraviglie (Alice Rohrwacher, IT/GE/FR 2014), Bild: Visions du Réel
Ebenso beeindruckend wie die gekonnte Einflechtung gesellschaftlicher und politischer Motive ist die karge Schönheit der umbrischen Landschaft: Die staubigen Strassen, Felsenklüfte am Meer und dürren Sträucher und Bäume – ein weiteres dokumentarisches Element.
Dass diese Inhalte durchaus als dokumentarisch bezeichnet werden können, zeigen sich in den Parallelen zu anderen Filmen des Festivalprogramms. Die Aussteigerfamilie in Umbrien scheint eine Antwort auf die Kommune in Jean-Stéphane Brons Connu de nos Services zu sein. Und das Aussterben traditioneller Berufsfelder wie der Honigproduktion wird auch in Fauna thematisiert: Ein alternder Schäfer kann seinen Beruf aufgrund gesundheitlicher Probleme nicht weiterführen, findet jedoch keine:n Nachfolger:in, da auch alle Arbeitskollegen bereits über 60 sind.
Nicht nur im Film verschwimmen die Grenzen: Auch im Alltag werden wir, gerade in der Post-Covid Zeit, mit einer Neubewertung von Realitätsbegriffen konfrontiert. Im «Parcours thématique» des Festivals bietet das Programm über das Schlagwort «Deus ex machina» einen Zugang zu diesem Phänomen: «Metaverses, avatars and ChatGPTs are infiltrating our daily lives, while artificial intelligence arouses envy, scientific fascination and dizzying philosophical questions», heisst es im Programmheft. Insgesamt neun Filme wurden zu diesem Thema gezeigt, auch in vielen weiteren ist dieser Grundtenor der Gegenwart spürbar.
In Heart of an Astronaut schafft Jennifer Rainsford ein poetisches Portrait der Ärztin Brigitte Godard, deren Aufgabe es ist, die Vitalfunktionen von Astronaut:innen zu überwachen. Ihr Traum, selbst ins All zu fliegen, ist nicht wahrgeworden, doch die Distanz von der Erde zur Raumstation scheint zu verschwinden, wenn Godard dem Pulsschlag im Weltraum lauscht oder ihr Patient ihr von seinen Träumen erzählt. Eine Erfahrung, die durch Globalisierung und Internet, via Telefon und Videochat, bereits ein fester Bestandteil des alltäglichen Lebens geworden ist. Die technologischen Prozesse, die es dem Menschen ermöglichen, in einer extraterrestrischen Umgebung zu überleben, wirken noch surreal und werfen die Frage auf, weshalb überhaupt noch Menschen ins All reisen und nicht längst Maschinen diese Aufgabe übernommen haben.
Mit dem Übergang von Mensch zu Maschine beschäftigen sich auch Theatre of Thought von Werner Herzog, sowie Cinq Nouvelles du Cerveau von Jean-Stéphane Bron. Sie zeigen auf, wie nahe die Wissenschaft bereits an der Imitation von körperlichen Prozessen ist und beschäftigen sich mit ethischen und philosophischen Fragen, die sich mit dieser Entwicklung ergeben. Aus etwas anderer Perspektive beobachten Nearest Neighbor und Animal, wie die Forschung von der Natur lernen kann: Ein tieferes Verständnis tierischer Verhaltensweisen bedeutet wissenschaftlichen Fortschritt. Doch werden dadurch die Menschen nicht mehr und mehr obsolet? «Will robots become humans like any other?», wird im Programmheft passend gefragt.
En Attendant les Robots (Natan Castay, BEL 2023), Bild: Visions du Réel
Eine Schnittstelle der Robotisierung dokumentiert Natan Castay in En Attendant les Robots. Seine fiktive Figur Otto versucht sich in einem abgedunkelten Zimmer als Turker oder «Clickworker». Der Filmemacher inszeniert damit eigene Erfahrungen, die er während des Lockdowns machte. Um Geld zu verdienen, meldete er sich auf der Clickworking-Vermittlungsseite «Mechanical Turk» von Amazon an. Otto identifiziert Pools auf Satellitenbildern oder muss über Stimmerkennung feststellen, ob auf einem Bild Menschen zu sehen sind. Durch Videochat-Kontakte mit anderen Turkern entsteht ein gefühlvolles und zugleich erschreckendes Bild einer sozialen Randgruppe, die aus finanziellen oder persönlichen Gründen ihren Unterhalt so verdienen muss. Die Aufgaben sind stupid und erfordern nichts als Zeit und Fleiss, sind aber schlecht bezahlt (nur einen Cent bekomme man pro eliminiertes Gesicht auf Google Streetview). Oft handelt es sich um Tätigkeiten, von denen man denkt, dass eine künstliche Intelligenz diese ebenso gut erfüllen könnte. Oft dienen sie auch dem Training einer Software: Turker bringen den Computern also bei, diese Arbeit künftig zu verrichten. Doch noch gibt es unzählige Click-Jobs – Menschen sind offenbar noch immer billiger als Maschinen.
Den letzten Schritt ins Virtuelle sind Ekiem Barbier, Guilhem Causse und Quentin L’Helgouac’h mit Knit’s Island gegangen, indem sie Filmmotiv, Dreharbeiten und schliesslich sich selbst in die Gaming-Welt von «Day-Z» verschoben. Als Avatare im Spiel, mit Bildschirmvideos aufgenommen, dokumentieren sie ihre 900-stündige Spielerfahrung. Es überrascht, wie leicht sich filmische Stilmittel auf die virtuelle Realität anwenden lassen. Neben der Ästhetik der fiktiven Welt vermitteln die Filmemacher auch einen Eindruck der Menschen, die sich hinter den Avataren verbergen, auf die sie treffen. Besonders über die Tonebene, durch persönliche Gespräche mit den Stammgästen von Day-Z, wird die verdoppelte Wirklichkeit der realen und fiktiven Welt beleuchtet.
Die mehrfache Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, in der sich auflösenden Unterscheidung zwischen Spiel- und Dokumentarfilm, dem Eindringen von virtuellen Realitäten ins Alltagsleben und der technischen Entwicklung, die sich dem Menschen immer mehr annähert – und sich zugleich von ihm entfernt: Über diese Zugänge wurde am Visions du Réel eine faszinierende und zugleich beängstigende Vision des Realen gezeichnet.
Der Beitrag entstand in Kooperation mit dem Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich.