Ein zitternder Zeigefinger umkreist auf der Karte den Ort, an dem er gelebt hat. Die Rückkehr nach Strasbourg, der Heimatstadt ihres Vaters, lässt Christine Angots traumatische Erinnerungen tränenreich aufleben. Ihre Jugend war geprägt von der Vergewaltigung durch ihren eigenen Vater, der mittlerweile verstorben ist.
Une famille macht diesen Schmerz sichtbar. Im Zentrum steht Angots persönliches Erleben. Zwischen intimen Gesprächen über die traumatischen Jugendjahre mit Familienmitgliedern und dem ehemaligen Partner werden Sequenzen von Videomaterial aus dem Archiv ihrer eigenen jungen Familie eingespielt. Sie zeigen Angots kleine Tochter und sie selbst mit ihrem damaligen Partner im Urlaub. Eine glückliche Zeit. Dem Archivmaterial stehen die Szenen gegenüber, in denen die traumatischen Erinnerungen aus der Jugend aufbrechen.
Angot begibt sich auf eine filmische Reise, in der sie das Schweigen innerhalb ihrer Familie bricht und den Umgang mit dem Inzest hinterfragt. Die Nähe zu ihrem Erleben wird durch die Kamera hergestellt, die sie während ihrer Suche nach Antworten aus nächster Nähe begleitet. Durch die Dialoge, in denen Angot ihre Verwandten mit dem Geschehenen konfrontiert, wird eine Intimität geschaffen, die es unumgänglich macht, an den Emotionen der Protagonistin teilzuhaben. Die Reaktionen variieren von Person zu Person, was sie vereint, ist das Schweigen.
Junge Kritik
Diese Filmkritik entstand im Rahmen einer Zusammenarbeit mit der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) am Dokumentarfilmfestival Visions du Réel 2024 in Nyon.
Obwohl die Stiefmutter nicht vor der Kamera sprechen möchte, beharrt Angot auf ihrer Absicht, das Gespräch zu filmen. Die Konfrontation ist gewaltvoll und überschreitet Grenzen. Ob das invasive Eintreten durch den Schmerz der Protagonistin entschuldigt werden kann, steht zur Diskussion. Es wird jedoch ersichtlich, dass es für sie eine Möglichkeit ist, ein Stück Kontrolle über ihre eigene Geschichte zurückzuerlangen.
Die Dringlichkeit, mit der sich Angot Gehör verschafft, wirkt wie der letzte Ausweg, um die Antworten zu erhalten, auf die sie Jahrzehnte gewartet hat. Während den Gesprächen mit den Familienmitgliedern drängt sie auf Klarheit, was deren Haltung zum Verbrechen ihres Vaters betrifft. Verletzlichkeit, Wut und Frustration wechseln sich ab und werden in den Dialogen erlebbar gemacht.
Une famille ist Angots Filmdebüt. Es feierte seine Premiere an der Berlinale 2024. Die mehrfach ausgezeichnete französische Schriftstellerin hat bereits zahlreiche Romane veröffentlicht – auch darin bildet die Inzesterfahrung eine wesentliche Dimension – und Drehbücher geschrieben. Das Medium Film hat für sie ein Potenzial, das die Literatur nicht erfüllt. Ihr Schmerz wird ungeschönt sichtbar. Auf der Leinwand sehen alle dasselbe, das sei wie ein Beweis, sagt sie. Der Film hat für Angot eine wichtige Funktion, weil er die unbequeme Wirklichkeit zeigt. In der Literatur fehlen diese kollektiven Bilder, erzählt die Regisseurin im Anschluss an die schweizerische Premiere in Nyon am Filmfestival Visions du Réel.
Mit bewundernswerter Stärke holt sich Angot die Antworten von denen, die jahrelang geschwiegen haben. Und doch lebt der Film davon, dass die Verletzlichkeit der Protagonistin sichtbar wird. Sie sehnt sich nach Mitgefühl und Verständnis. Une famille erzählt nicht nur Christine Angots eigene traumatische Familiengeschichte. Sie bietet dem Tabuthema Inzest eine Bühne und schafft ein Bewusstsein in der Gesellschaft.