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Toute ma vie
© Visions du Réel/Bande à part Films

Die besten Jahre: Toute ma vie

Matias Carlier begleitet seinen Protagonisten durch die turbulenten Jahre zwischen 14 und 16 – und scheut nicht davor zurück, ins Geschehen einzugreifen.

Text: Johanna Brodmann / 08. Apr. 2025
  • Regie, Buch

    Matias Carlier

  • Kamera

    Myriam Guyénard

  • Schnitt

    Brice Cardinal

«Ich glaube, wir sind jetzt am Ende des Films», sagt Matias Carlier. Vor einem Mountainbike, das umgedreht auf Lenker und Sattel steht, kniet der 16-jährige Noah. Er presst mit beiden Händen einen Drahtschneider um eine Velospeiche, auf seiner Stirn eine dunkle Ölspur. Im Hintergrund verschmilzt der Genfersee mit dem zarten Blau des Sommerhimmels. «Von mir aus können wir weitermachen, bis ich sterbe. Mein ganzes Leben.» Noah schaut in die Ferne. «Wirklich, du hast die beste Zeit gefilmt.»

Noah ist 14, als Carlier beginnt, ihn mit der Kamera zu begleiten. Er lebt mit seiner jüngeren Schwester Léa und Mutter Séverine, die als SBB-Ticketkontrolleurin arbeitet, in Lausanne. Manchmal zu Hause, oft in Jugendheimen, aus denen er immer wieder routiniert türmt. Noah hat irgendwie immer Stress, aber was genau er anstellt, bleibt zu erraten. Da ist wohl ein Mädchen, das er geschlagen hat, ein Auto, in das er eingebrochen ist. In Nebensätzen fallen Worte wie Einweisung, Jugendstrafgericht, Heim. «Chai pas», «Ich weiss nicht», sagt Noah immer wieder in Gesprächen mit Autoritätspersonen und kratzt an der Haut seiner Unterarme.

Toute ma vie 1

© Visions du Réel/Bande à part Films

Da ist aber auch eine andere Seite von Noah, auf die sich Carlier fokussiert. Noah, der an Léa und Séverine gekuschelt auf dem Sofa liegt. Der eine Ausbildung zum Babysitter machen möchte. Oder zum Zugmechaniker. Noah, der passionierte Mountainbiker. Auf seinem neongrünen Bike mit den seltsam grossen Reifen rast Noah die Strassen Lausannes hinab. Er fährt, nur auf dem Hinterrad balancierend, auf entgegenkommende Autos zu, um im letzten Moment scharf abzuwenden. Die Kamera fährt mit. Bike Life nennt Noah die Sportart und meint damit wohl auch das Lebensgefühl.

Matias Carlier, dessen Bachelorfilm La Fièvre (2021) an verschiedenen Festivals lief, mischt dann so richtig mit: Als Noah auf einmal keinen Schlafplatz mehr hat, nimmt der Regisseur seinen Protagonisten kurzerhand zu sich in die Wohnung. Er kocht Pasta für beide, sie filmen sich gegenseitig mit einem Camcorder. Dieses Eintreten in das Leben der dokumentierten Person mag im klassischen Dokumentarfilm ein No-Go sein. Doch dokumentiert Carlier nun einmal Noahs Leben – und im Laufe von drei Jahren ist er ein Teil dieses Lebens geworden.

Toute ma vie 2

© Visions du Réel/Bande à part Films

Toute ma vie ist kein Observieren aus der Distanz, sondern die einfühlsame Begleitung eines Jugendlichen, der verschiedene Arten des Erwachsenseins ausprobiert. Das ist auch immer wieder komisch. Wenn Noah E-Zigarettenrauch in eine blaue Fantaflasche pustet, um daraus eine Rauchwolke entweichen zu lassen, kippt die Ästhetik in die hochauflösende Version eines wackeligen Handy-Erinnerungsvideos. Besonders berührend sind die Momente, in denen Carlier mit Léa allein spricht. Feinfühlig und in wenigen Sätzen entschlüsselt Noahs Schwester die Dynamik ihrer Familie und weiss auch, welche Verantwortung sie darin trägt. Carlier zeichnet das Portrait eines Jungen auf der Suche und seiner Familie. Es bleibt das Gefühl, dass er den Film auch für Noah macht, als Ermutigung für seinen weiteren Weg.

 

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