Er ist als Schock kalkuliert, jener Moment in Peter Jacksons Found-Footage-Film They Shall Not Grow Old in der 25. Minute: Das Bildformat weitet sich von einem «Archiv» brüllenden 1:1,33-Format mit abgerundeten Ecken zum CinemaScope-Seitenverhältnis 1:2,39, die Bilder werden farbig, die Menschen in ihnen beginnen sich «natürlich» zu bewegen, und auf der Tonspur fügt sich zu Erzählstimmen aus dem Off ein Synchronton, der die Geschützfeuer, den Lärm der Front, die Stimmen der Soldaten mit den Bildern in Deckung bringt. Es ist der Moment der Ankunft der Soldaten des Britischen Empire an der Westfront, in Frankreich und Belgien, im Krieg gegen das Deutsche Kaiserreich, dem Great War, wie der Erste Weltkrieg in den Geschichten Grossbritanniens firmiert.
Peter Jacksons Film zum hundertjährigen Jubiläum des Kriegsendes nimmt den Weg von den Dokumenten zum lebendigen Monument, vom Archivmaterial der BBC und des Imperial War Museum (IWM), in dessen Auftrag der Film entstanden ist, zu einer Breitwandreanimation des Frontgeschehens im Dienst einer eben monumentalen Vergegenwärtigungsanstrengung. Was dies technisch und historiografisch bedeutet, lässt sich in Anekdoten filmarbeiterischen Heldentums nachlesen: state of the art-Technologie, um das heterogene historische Newsreel-Material zu vereinheitlichen und in 3D und 4k zu animieren; Einsatz von forensischen Lippenleser_innen, um die Frontsoldaten hörbar zu machen; Ortsbegehungen in Belgien, um die Farbpalette Flanderns zu emulieren. Aber die spektakuläre Blickweitung geht natürlich mit einer nicht minder gewaltigen Blickverengung einher. Nicht nur jener üblichen, die den Ersten Weltkrieg auf die britischen Kampfhandlungen an der französisch-belgischen Frontlinie reduziert. Oder der nicht minder notorischen, die zwar unter den Stimmen der Veteranen auch solche von anderen British-Empire-Kampfverbünden hörbar macht, die sogenannten Kolonialsoldaten aber konstitutiv fehlen lässt. Dass «World War I», in der britischen (vor allem englischen) Erinnerungskultur als der grosse Krieg weiterleben kann, geht mit solchen Kollateralschäden einher.
Anlässlich der Ausstrahlung der französischen Dokumentarserie Apocalypse – La Deuxième Guerre Mondiale (2009), für die historisches Filmmaterial digital nachkoloriert worden war, hatte der französische Kunsthistoriker Georges Didi-Huberman über die Lüge, den «Bluff» geschrieben, der in der Behauptung bestehe, der Erfahrung des Kriegs so näherzukommen (und zwar weil, so geht diese Behauptung und so liest man auch im Zusammenhang mit Jacksons Film, der Krieg schliesslich auch in Farbe gewesen sei). Eine solche geschichtstheoretisch und geschichtsethisch motivierte Kritik trifft genauso Jacksons Film, perlt aber auch an ihm ab. Zu spektakulär sind die Ergebnisse, zu anders sind vielleicht auch die Erinnerungskontrakte für das Material heroischer britischer Kriegseinsätze. Zumal They Shall Not Grow Old sich Legitimität aus der oral history der Kriegsveteranen verleihen lässt: Mit ihr vollzieht er einen Bogen von den Rekrutierungen und Freiwilligmeldungen über die Grundausbildung bis zur Westfront und wieder zurück. Aus dem Off sprechen die Überlebenden, in Zeitzeugengesprächen der BBC und des IWM, von jedem Tonstaub der Geschichte bereinigt. Sie berichten, erst im Abspann identifiziert und zur Kollektiverzählung montiert, vom Alltag des Kriegs, eine Geschichte von anfänglicher Begeisterung und Kameraderie, von Dreck, Parasiten und Entbehrung an der Front, vom Terror der Schützengräben und dem massenhaften Metzeln und Gemetzeltwerden.
Es mag naheliegend scheinen, dieses Chronistische mit dem Synchronen zusammendenken zu wollen. Und doch ist die Austreibung der Achronie aus den Bildern und Tönen – die Anpassung der Bildrate an unsere quasi-physiologischen Standards, die Bereinigung der Tondokumente – ja gerade ein einziger virtuoser Anachronismus, im Dienste der Rekonstruktion, Reanimation und Vergegenwärtigung. Jackson ist da ganz Fiktions- und Immersionsarbeiter, wo ihn die Stimmen auf Distanz und Reflexivität verpflichten könnten. Denn die Heimkehr dieser Stimmen, mit den Bildern nie ganz identisch, ist eine unvollständige: Sie sind, so bekunden sie, immer auch im Krieg geblieben, von dem sie nicht angemessen berichten konnten, zu dem sie nie richtig gehört werden sollten. Nicht vermittelbar seien ihre Erfahrungen gewesen, die Grauen der Schlachten und Schützengräben genauso wie jene des soldatischen Alltags, so heisst es am Ende des Films. Dass die historische Erfahrung vielleicht einfach ihren medialen Aggregatszustand ändern müsse, um sich zu vermitteln, diese Hoffnung Jacksons darf hinter diesem Schluss vermutet werden. Aber es bleibt eine Diskrepanz, ein Abgrund, der sich auch andernorts im Film öffnet.
They shall not grow old: Dieses Memento oder Lamento erinnert an Roland Barthes Analyse des fotografischen Porträts, das Alexander Gardner 1865 vom amerikanischen Attentäter Lewis Payne vor dessen Hinrichtung angefertigt hat: «Das punctum aber ist dies: er wird sterben», schreibt Barthes in «Die helle Kammer». Auch in Jacksons Reanimation der Todgeweihten insistieren diese lebendigen – oder vielmehr reanimierten, ständig an die Kamera gerichteten – Blicke von Marschierenden, in den Schützengräben, selbst auf den «Donnerbalken» der improvisierten Latrinen. Barthes ging es mit seinem Punkt, seinem Stich gerade um den Schock einer Zeitlichkeit, die sich zwischen dem lebendigen Blick und der Erkenntnis von seiner Vergangenheit und physischen Vergänglichkeit als Abgrund auftut. Ich habe Jacksons Film nicht in der 3D-Aufbereitung sehen können. So konnte sich das von Barthes beschriebene punctum bei mir anders einstellen: in und aus der Künstlichkeit des Dimensionsabstands, der Verfremdungs- und Verlebendigungsoperationen für mich in eins fallen liess, zum Beispiel im Granatenfeuer, das so eher ein artifizielles Farben- als ein Immersionsfeuerwerk ist.