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Styx

Eine einsame Seglerin begegnet einem überfüllten Flüchtlingsboot, möchte helfen und stösst jedoch bald an ihre Grenzen. Die aufreibende Chronik eines moralischen Dilemmas.

Text: Michael Ranze / 17. Sep. 2018

Rike, Anfang vierzig, ist Notärztin, und sie beherrscht ihr Handwerk. Gleich in der zweiten Szene sehen wir, wie auf einer nächtlichen Kreuzung zwei Raser einen Autofahrer schneiden, worauf dieser in ein parkendes Auto kracht. Polizei und Feuerwehr eilen heran, und dann tut Rike das Richtige: mit dem Verletzten sprechen, ihn hinlegen, die Luftzufuhr sichern, den Kreislauf stabilisieren. Fast schon dokumentarisch wirken diese ersten Eindrücke. Kurz darauf ist Rike auf Gibraltar zu sehen, das der Prolog des Films als mysteriöse, von Affen beherrschte Festung zeigt. Rike belädt ihr zwölf Meter langes Segelboot namens «Asa Gray» (benannt nach einem US-Botaniker aus dem
19. Jahrhundert) mit allem, was sie für eine mehrwöchige Reise braucht. Ihr Ziel: die Insel Ascension im Südatlantik, auch bekannt als Himmelfahrtsinsel. Darwin hat hier einen künstlichen Dschungel angelegt, und diese Mischung aus Planung und Chaos ist es wohl, die Rike reizt.

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Im Folgenden schaut ihr die Kamera genau zu: Segel setzen, steuern, navigieren, Funksprüche beantworten. Zwischendurch findet sie sogar Zeit, schwimmen zu gehen, sich an Deck zu bräunen oder ein Buch zu lesen. Dann ein nächtlicher Sturm, die «Asa Gray» wird zum Spielball der Wellen, der Regen peitscht in Rikes Gesicht, in dem sich Orientierungslosigkeit und Einsamkeit spiegeln. Doch auch diese Erfahrung übersteht die Ärztin unbeschadet. Bei Rike stimmt jeder Handgriff, stets weiss sie, was zu tun ist. Das erinnert in dieser Ausführlichkeit an Robert Redford in All Is Lost, der auch für jedes Problem an Bord geschickt und umsichtig eine Lösung fand. Doch wo Redford zum hilflosen Opfer der Elemente wurde, bekommt es Rike mit etwas ganz anderem zu tun. Am Morgen nach dem Sturm entdeckt sie, nur 150 Meter neben ihrem Segelboot, einen manövrierunfähigen Fischkutter, beladen mit über hundert Flüchtlingen vom afrikanischen Festland. Rike versucht, per Funk Hilfe herbeizurufen. Gleichzeitig wirkt ihr Boot auf die Flüchtlinge wie ein Magnet, der Rettung zu verheissen scheint: Sie springen ins Wasser. Aber: Ihr Boot ist für so viele Menschen einfach zu klein, ihre Vorräte sind zu gering. Wie kann Rike helfen?

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Was für ein Gegensatz: Auf der einen Seite die schöne, durchtrainierte Frau in ihrem schnittigen, Wohlstand signalisierenden Segelboot, auf der anderen Seite erschöpfte Flüchtlinge auf einem sinkenden Seelenverkäufer – das ist schon eine starke Allegorie, die Regisseur Wolfgang Fischer, geboren 1970 in Wien, für seinen Film gefunden hat. In Zeiten, in denen rechtspopulistische Rattenfänger mit Bange machenden Parolen die Angst vor allem Fremden schüren, die konservative Politik von Obergrenzen und Ankerzentren faselt und Länder wie Italien oder Ungarn Flüchtlingshelfer_innen sogar strafrechtliche Verfolgung androhen, bricht Styx, benannt nach jenem mythischen Fluss in der Unterwelt, bei dem die Götter ihre Eide schworen, die Flüchtlingsproblematik auf einen moralischen Konflikt herunter, für den es keine Lösung gibt. Zum einen erhält Rike überhaupt keine Hilfe, weder von den Behörden noch von vorbeifahren­den Frachtschiffen, zum anderen ist ihr von der Küstenwache das Einschreiten sogar verboten worden, weil sie mit ihren beschränkten Mitteln nicht helfen kann.

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Doch Rike ist schon zu nah am Geschehen, ein vierzehnjähriger Bub ist zu ihr herübergeschwommen und verstärkt den Konflikt, zumal sich seine Schwester noch auf dem Fischkutter befindet. Das bringt Rike in eine unmögliche Situation. Sie ist Ärztin und dem medizinischen Eid verpflichtet. Nicht zu helfen, ist deshalb keine Option. Das ist die ebenso einfache wie einleuchtende Essenz des Films. Fischer zeigt das ohne Pathos, nichts wirkt aufgesetzt oder übertrieben. Er widersteht auch der Versuchung, aus seiner Hauptfigur eine überlebensgrosse Heldin zu machen. Die Dinge sind so, wie sie sind. Fast hat man den Eindruck, als nehme der Regisseur die Position des distanzierten Beobachters ein. Die Kamera sieht Rike geduldig zu, bei der Arbeit, beim Segeln, beim Entspannen, und lässt den Dingen ihre Zeit, sodass eine unterschwellige Spannung entsteht: Wie wird Styx enden?

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Hauptdarstellerin Susanne Wolff trägt fast den gesamten Film. Sie hat kaum Dialog (fast vier Fünftel des Films sind stumm) und verkörpert trotzdem überzeugend die tüchtige, erfolgreiche, aber auch bewusst lebende Frau, die für alles eine Lösung hat. Bis sie an ihre Grenze kommt. Man möchte nicht in ihrer Haut stecken.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 6/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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