Gleich zu Beginn schlagen meterhohe Wellen am Strand von Amami-Oshima auf, einer Insel im Süden Japans. Das Meer als unbändige Kraft, voller Energie und furchteinflössender Wucht. Kurz darauf sieht der Zuschauer ein junges Mädchen, das voll bekleidet in Schuluniform schwerelos durch die blaue Tiefe schwebt. Mehrere Minuten scheinen diese Tauchgänge zu dauern. Doch kann das sein? Kyoko, so der Name des Mädchens, ist eins mit dem Meer, sie fühlt sich einer Nixe gleich wohl im Pazifik, fast so, als sei er ihr Zuhause. «Man kann sich nicht gegen die Natur wehren», wird sie später sagen. Der 16-jährige Kaito hingegen mag das Meer nicht. Stets ist es allgegenwärtig, entweder zu hören oder zu sehen, weil es nie weit ist bis zum Strand. Überhaupt hadert Kaito mit sich und den anderen. Nach der Trennung der Eltern, für ihn unbegreiflich, lebt er bei seiner Mutter. Doch die ist nie da, hat mehrere Liebhaber. Maulfaul fertigt er sie am Telefon ab, wenn sie ihm Instruktionen für das Abendessen erteilen will.
Kyoko lenkt den Jungen von seinen Sorgen ab. Mehrmals sehen wir sie gemeinsam Fahrrad fahren. Kyoko steht dabei aufrecht auf dem Gepäckträger und hält sich an Kaitos Schultern fest. Bis sie sich einmal mit ihrem ganzen Gewicht auf ihn legt und stürzt. Ein kleiner Unfall mit emblematischer Funk tion: Kyoko hat Ansprüche an den Jungen, sie gesteht ihm ihre Liebe und möchte mit ihm schlafen. Doch dem ist die Liebe nicht geheuer: Der tote Mann, den er zu Beginn des Films in einer Vollmondnacht am Strand entdeckte, war ein Liebhaber seiner Mutter. Für den Tod des Mannes findet der Film keine Begründung. Ein Unfall? Eine Straftat? Selbstmord vielleicht? Es bleibt ein Geheimnis. Kyokos Mutter hingegen, die Schamanin des Dorfes, ist schwer krank und wird bald sterben. Darum hat der Vater sie aus dem Krankenhaus nach Hause geholt. Hier soll sie ihre letzten Wochen im Kreis der Angehörigen verbringen.
Das Meer, die Liebe und der Tod: Die japanische Regisseurin Naomi Kawase stellt in ihrem neuen Film den Menschen demütig in die Welt und begreift ihn – so Kawase in den Produktionsnotizen – als «kleinen Teil eines grossen Kreislaufes», der «von göttlicher Natur ist». Immer wieder der Blick aufs Meer, immer wieder das Rauschen des Windes, der Bäume und Gräser wiegt und so von ihrer Lebendigkeit zeugt. Gleich zwei Mal ist die Schächtung eines Schafs zu sehen, weil die Macht des Menschen über die Tiere, aber auch seine Abhängigkeit von ihnen zu diesem Kreislauf gehören. Quälend langsam hauchen sie ihr Leben aus. Sogar das Surfen, dem sich Kaito in seiner Angst vor dem Meer verweigert, erhält hier eine besondere Bedeutung: Es ist nur in der letzten Phase einer Welle möglich, der Körper wird mit ihr eins und profitiert so von ihrer Energie. «Und immer noch das Meer», sagt jemand am Schluss, noch einmal die Vergänglichkeit des Menschen betonend, während die Natur unbeeindruckt bleibt. Kawase kleidet ihre tief empfundene Religiosität, der eine philosophische Tiefgründigkeit zukommt, in aufregende Panoramen, die die Schöpfung feiern und den Menschen mitunter klein und verloren erscheinen lassen. Und doch stehen die Menschen im Mittelpunkt.
Still the Water erzählt zuerst die Geschichte einer Liebe: Zwei junge Menschen interessieren sich füreinander, mit allen Unsicherheiten, Ängsten und Zurückweisungen, die dazugehören. Es ist ihre erste grosse Liebe. Wie spricht man da miteinander? Wie geht man miteinander um? Wie nähern sich die Körper? Nijiro Murakami und Jun Yoshinaga interpretieren ihre Rollen – er: scheu, nachdenklich, sie: offener, mutiger – mit grosser Sensibilität. Eine unaufgeregte und doch anrührende Coming-of-Age-Geschichte ist so entstanden, die im ungewöhnlichen Bild des gemeinsamen Radfahrens eine spannungsreiche Entsprechung findet. Das Zentrum des Films ist aber die Sterbeszene, die sich fast ohne Schnitt über mehrere Minuten erstreckt. Kyokos Mutter liegt im Bett, Freunde, Verwandte und Nachbarn sitzen oder stehen um sie herum. Sie will ein bestimmtes Lied hören. Kennt es jemand? Und dann fängt ein Mann, nach Tönen und Worten in seinem Gedächtnis kramend, zunächst zögerlich zu singen an. Die anderen stimmen nach und nach mit ein, bis der von Rhythmusinstrumenten unterstützte Gesang immer kräftiger und lauter wird. Eine erstaunliche, intensive, gänzlich unsentimentale Szene, die im Angesicht des Todes das Leben feiert.