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Sir

Buchstäblich zwischen Küche und Wohnzimmer kommen sich eine Hausangestellte und ihr Dienstherr näher. Kein kitschiges Märchen, sondern eine ebenso sensible wie präzise Studie der Sehnsucht über soziale Klüfte hinweg.

Text: Till Brockmann / 05. Nov. 2018

Eigentlich ist das Leben von Ratna schon gelaufen. Auf dem Land aufgewachsen und sehr jung verheiratet, wurde sie mit neunzehn bereits Witwe. In vielen Regionen Indiens hat man damit als Frau nur noch die Möglichkeit, zur eigenen Familie zurückzukehren und dort zu darben. Ohne Mann an der Seite ist einem die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit sicher, und einen neuen Gefährten zu finden, ist aufgrund von Traditionen von vornherein ausgeschlossen.

Und doch hat Ratna mehr Glück als andere. Um von ihrer armen Familie nicht durchgefüttert werden zu müssen, hat sie sich eine Stelle in der Metropole Mumbai gesucht. Als Hausangestellte hat sie dort lediglich für einen allein lebenden jungen Mann aus einer sehr wohlhabenden Familie zu sorgen. Anders als Millionen andere Hausangestellte in Indien wird sie zudem mit Respekt behandelt, nicht angebrüllt oder schikaniert, und sie schläft auch nicht unter der Treppe oder auf dem Gang auf einer schäbigen Matratze: Die grosse, modern eingerichtete Wohnung bietet genügend Platz, sodass Ratna ein eigenes Zimmer hat.

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Trotzdem: Ratna und ihr Arbeitgeber Ashwin, den sie selbstverständlich nur mit «Sir» anspricht, wohnen zwar zusammen, aber aneinander vorbei. Sie nimmt an seinem Leben insofern teil, als sie seine alltäglichen Bedürfnisse kennt, durch Telefonate und Besuche von Gästen zudem von seinen Problemen erfährt: Seine Hochzeit ist im letzten Moment geplatzt, als er erfuhr, dass seine Zukünftige fremdgegangen ist. Er arbeitet in der Baufirma seines Vaters, obwohl er sich zuvor in den USA als Schriftsteller versucht hatte. Er liest, schaut in seinem Zimmer fern, starrt auf seine geplatzten Lebensträume und die Skyline Mumbais. Von Ratna weiss der Sir hingegen anfänglich nichts, weil Hausangestellte nicht als vollwertige Menschen wahrgenommen werden. Soziale Klüfte, Bildungsunterschiede und die Folgen des jahrtausendealten Kastensystems legitimieren diesen Zustand als Selbstverständlichkeit.

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Wie sollte es jedoch anders sein – die Wendung ist so voraussehbar, dass sie hier bestimmt nicht als Spoiler moniert werden kann –, kommt es schrittweise zu einer Annäherungen. Der Sir lässt sich gar nicht mal so sehr durch die (professionell bedingte) Fürsorglichkeit seiner Hausangestellten bezirzen, vielmehr entdeckt er langsam ein facettenreiches Individuum in ihr. Er ist davon beeindruckt, wie Ratna mit ihrem Schicksal umgeht, dass sie trotz ihrer Situation den Mut und die Kraft für eigene Wünsche aufbringt: Sie möchte als Schneiderin oder gar Modeschöpferin arbeiten und geht neben der Hausarbeit zwei Stunden pro Tag dafür in die Lehre – freilich nur, weil der grosszügige Ashwin ihr das erlaubt.

Trotzdem hat der Film gar nichts von einer kleb­rigen Liebesgeschichte, ist kein Bollywoodding auf Sparflamme und weist keine klassische Märchenstruktur auf, wo gross gezeichnete Gefühlswelten die Trieb­feder sozialer Mobilität sind. Sir lässt weder den Figuren noch dem Publikum allzu viel Raum für Illusionen. Das Spielfilmdebüt von Rohena Gera, die in Indien geboren ist, aber auch lange im Ausland gelebt und gearbeitet hat, fasziniert durch die haarfeine Inszenierung von Figuren, Räumen und narrativen Mikrostrukturen. In einem Interview verrät sie, dass Wong Kar-Wais In the Mood for Love als inspirierende Vorlage diente. Der Vergleich ist durchaus angebracht, wenn man daran denkt, wie in beiden Filmen das grösste erzählerische Gewicht auf atmosphärisch ausgelegte Innenwelten verlagert wird. Auf einer rein formalen Ebene übt sich Geras Werk jedoch in einer gestalterischen Zurückhaltung, die meilenweit von der Opulenz der Hongkonger Vorlage entfernt ist.

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Wunderbar, in kleinen Verschiebungen und Variationen, nutzt Sir den filmischen Raum der Wohnung, in dem die überwiegende Mehrheit aller Szenen angesiedelt ist. Ratna ist Herrin über ihr Zimmer und besitzt in gewisser Weise auch die grosszügige Küche, die ihre Wirkungsstätte ist. Ashwin gehört sein Schlafzimmer, die Terrasse, das Wohn- und das Esszimmer – Räume, die Ratna nur flüchtig und aus dienstlich-dienenden Gründen betritt. Einige Holzpalisaden, die als Trennelemente zur eleganten Innenarchitektur gehören, versinnbildlichen ausserdem, dass die freie Wohnfläche für Ashwin auch ein (goldener) Käfig ist.

Doch der spannendste und einzige gemeinsame Ort ist der Gang. Dort kreuzen sich ihre Wege immer wieder. Es ist der Ort der Begegnung und der Sehnsüchte. Nicht zufällig berührt genau hier Ashwin zum allersten Mal Ratnas Hand und küsst ihre Stirn. Dass Ashwins Beziehung zu ihr sich verändert hatte, war schon vorher topografisch ersichtlich, als er plötzlich im Stehen in der Küche ass. Und spätestens, als er in ihrer Abwesenheit sogar ihr Zimmer betrat und ihre Sachen betrachtete, war klar, dass es um ihn geschehen ist.

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Ein grosser Gewinn für den Film ist auch die Besetzung. Ashwin wird von Vivek Gomber gespielt, der sowohl als bourgeoiser Charmeur als auch als etwas verunsicherter, doch sympathischer Bubi glaubhaft bleibt. Tillotama Shome, die schon in Monsoon Wedding eine Hausangestellte spielte, glänzt als Ratna. Und es ist eine überaus spannende Haupt- und eine starke Frauenfigur, denn sie ist schüchtern und selbstbewusst zugleich, sie unterwirft sich den gesellschaftlichen Regeln und lässt sich trotzdem nicht ausbeuten, sie wagt es zu träumen und bleibt dennoch realistisch. Sie ist es, die sofort die Unmöglichkeit einer solchen Liebesbeziehung im Rahmen der indischen Gesellschaft anspricht, die trotz ihrer Zuneigung Ashwin die Leviten liest. Und vor allem ist sie die Einzige, die die Courage und die Intelligenz besitzt, eine Katastrophe abzuwenden. Solche Frauenfiguren braucht nicht nur das indische, sondern das Kino überhaupt.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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