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Shifting Baselines
© Visions du Réel/Les Films du 3 Mars

SpaceX zwischen Unbehagen und Begeisterung: Shifting Baselines

Julien Élie zeigt die sozioökologischen Auswirkungen von Elon Musks Raketenbasis an einem der schönsten Flecken des Planeten.

Text: Dan Müller / 15. Apr. 2025
  • Regie, Buch

    Julien Élie

  • Kamera

    Glauco Bermudez, François Messier-Rheault

  • Schnitt

    Xi Feng

  • Musik

    Mimi Allard

Düstere Nacht. Gehaltene, mit Geräuschen verwobene Bläserstimmen fliessen über in Schwarzweissbilder eines Industriekomplexes zwischen Metropolis und Film noir. Die Kamera ist sehr nahe am Geschehen, spielt mit Schärfen und Tiefen. Schnitt. Helle Bilder eines Weltraumbahnhofs, Raketentürme im Gegenlicht. Wie überdimensionale phallische Dartpfeile stehen die Raketen von SpaceX in der Landschaft von Boca Chica, Texas, an der mexikanischen Grenze, wo der Rio Grande in den Golf von Mexiko fliesst. Dort, wo SpaceX seine «Starbase», den «Gateway zum Mars», gebaut hat und dafür immer mehr Land in der Küstengegend aufkauft. Einst wurde sie von den ärmeren Bewohner:innen der nahegelegenen Stadt Brownsville als Urlaubs- und Erholungsort genutzt. Der Weltraumbahnhof steht inmitten eines Naturschutzgebiets, wo Ornitholog:innen vom Schwinden der dort lebenden Vögel berichten, die aufgrund des Lärms, der Vibrationen und vom Himmel fallender Wrackteile ihrer Lebensgrundlage beraubt werden.

Shifting Baselines (etwa: sich verschiebende Bezugsgrössen) ist der neue Dokumentarfilm des kanadischen Filmemachers Julien Élie (Dark Suns, La guardia blanca). Der Titel verweist auf einen Begriff des im Film interviewten Biologen Daniel Pauly und beschreibt das Phänomen, dass Menschen Umweltveränderungen meist nur im Rahmen ihrer eigenen Lebenszeit wahrnehmen – und dabei ausblenden, was sich über Generationen hinweg verändert hat.

Shifting Baselines 1

© Visions du Réel/Les Films du 3 Mars

Ausserordentlich schön gefilmte Naturlandschaften in gleissendem Licht oder stiller Weite, singender Wind und rauschende Wellen, Vögel auf verbrannter Erde vor dem Hintergrund der Raketenbasis: In lyrischen Bildern erzählt der Film von den globalen Auswirkungen und irrwitzigen Auswüchsen des Elon Musk’schen Weltraumprogramms.

Das non-lineare Storytelling von Shifting Baselines führt uns von Boca Chica nach Belize, Kanada, Mexiko, Massachusetts und immer wieder zurück zur Raketenbasis. Die Übergänge zwischen den Schauplätzen sind fliessend, die Bilder so komponiert, dass es scheint, als wäre Texas von Saskatchewan nur einen Filmschnitt entfernt.

Shifting Baselines 2

© Visions du Réel/Les Films du 3 Mars

Ist die privatisierte Raumfahrt eine existenzielle Bedrohung für den Planeten, neokoloniale Fantasie oder letzte Hoffnung für die Menschheit? Widersprüchlich sind dazu die Meinungen der Protagonist:innen des Films. Texanische Raumfahrtnerds teilen ihre ebenso absurd anmutende wie mitreissende Begeisterung für Elon Musks Marsmission, während Expert:innen ebenso eindringlich vor den Gefahren derselben warnen: Weltraummüll, Lichtverschmutzung und Artensterben.

Shifting Baselines moralisiert nicht, bietet allerdings auch keinen Ausweg aus dem düsteren Zustand unserer Welt. Eine Frage drängt sich auf: Warum den Mars kolonialisieren und tausende Satelliten ins All schiessen, auf Kosten von Mensch und Natur, wenn stattdessen diese Ressourcen für die Rettung des Ökosystems der Erde verwendet werden könnten? Shifting Baselines beantwortet diese Frage nicht und stellt sie explizit auch nicht. Der Film positioniert sich stattdessen subtil und unprätentiös, durch die geschmeidige Schönheit seiner Bildsprache, durch Bilder von Naturschauplätzen, die es wert sind, beschützt und erhalten zu werden.

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