Nacht für Nacht den Henker weggeflüstert, zum Warten verführt und zum Zuhören. Nicht nur Sheherazades Geschichte funktioniert so. Es ist das Grundmotiv von «Tausendundeine Nacht». «Das Wort gegen den Tod» nennt der tunesische Regisseur Nacer Khemir seine Annäherung an die morgenländische Erzählsammlung im Untertitel. Fast jederman hat schon von ihr gehört, und doch kennt kaum jemand sie wirklich. Flüchtig sind die Erzählungen Sheherazades, die sich umkreisen, sich ineinanderschlingen und sich dem Zuhörer stets entziehen. Flüchtig sind sie ihrem narrativen Wesen nach und, wenn man ihrer oralen Tradition gerecht werden möchte, noch in einem weiteren, formalen Sinne. Wer sie aufschreibt, transformiert sie, sperrt sie ein, enthauptet sie gewissermassen, stopft sie aus. Was nicht heissen soll, dass es falsch oder sinnlos sei, ihrer schriftlich-museal zu gedenken. Im Gegenteil, es ist bedauerlich, wie wenig die Geschichten hierzulande gelesen werden. Noch seltener allerdings werden sie gehört und also auch: erzählt. Dabei ist es das Reden, das Die-Worte-in-den-Mund-Nehmen und Sie-sich-zu-eigen-Machen, was ihnen neues Leben einhaucht. «Die Erzähler halten sich nie völlig an den Text», heisst es in Khemirs Film. «Besser noch! Manchmal fügen sie Erzählungen aus eigener Phantasie hinzu.»
Wenn der Text im Erzählen neu entsteht, wenn das gesprochene Wort sein ureigenstes Medium ist, wie kann sich dann ein Film ihm gegenüber verhalten? Natürlich liesse und liess sich «Tausendundeine Nacht» verfilmen, in Ton-Bildern auf die Leinwand schreiben. Als jeweils [eine] individuelle künstlerische Interpretation. Khemir wählt jedoch einen etwas anderen Zugang. Es ist das Erzählen selbst, das er inszeniert. Auch das lässt sich nun unendlich reproduzieren, bleibt aber als Vorgang in der Zeit erkennbar. Wie in einer Wüstennacht am Lagerfeuer sitzt Khemir zwischen Kerzen auf der Theaterbühne in Tunis und erzählt von Sheherazade, was ihn bald zur Geschichte eines Jungen namens Hassan führt, der solange von einem Schatz träumt, bis er sich aufmacht, ihn zu suchen. Aber auch diese Geschichte gebiert nur die nächste. Und so ist von Geistern die Rede, von Prinzen und Prinzessinnen und immer natürlich von der Liebe und immer natürlich vom Tod. Im Zentrum aber bleibt stets, am Schluss dann wortwörtlich, das Wort. Dem Bildmedium zum Trotz.
Man könnte die Augen schliessen, wie man am Feuer in der Wüste die Augen hätte schliessen können. Und sie wieder öffnen. Darauf lässt es Khemir dann doch nicht beruhen. Den verschachtelten Erzählungen fügt er noch einen weiteren, cineastischen Rahmen hinzu: prächtige Aufnahmen von leuchtenden Wüsten, glitzernden Seen, im Gegenlicht das anbrandende Meer. Behutsam inszenierte, fast nur angedeutete Szenen durchziehen den Film wie herrenlos umherstreifende Träume: ein Fischer am Strand, namenlose Menschen, die in bunten Kleidern Wüsten und Wiesen durchschreiten, durchreiten. Stille Gesichter. Nur wenige, visuell opulente, dramaturgisch dagegen schlichte Assoziationen. Dazu aus dem Off eine meditative Frauenstimme, die in poetischen Worten etwas [über] das Erzählen erzählt, von der Tradition, der Herkunft; ohne zu dozieren, eher so, als gehöre das Erzählen vom Erzählen nun mal zum Erzählen.
Eine schlichte Anordnung. Eine Bühne, ein Stuhl. Darauf der Erzähler, der zugleich der Regisseur ist. Ein paar Kerzen. Zwischendurch Impressionen aus dem orientalischen Märchenland wie aus dem Fotokalender. Mehr ist das nicht. Verdammt wenig. Aber mehr braucht es nicht. Die letzten Sekunden, in denen der Film dann doch noch so etwas wie eine Kinohandlung produziert, sind eigentlich schon wieder zuviel.