Schon die ersten acht Minuten, getragen von streng komponierten, wortlosen und langen Cinemascope-Einstellungen sowie einem sehr kontrollierten Schnitt, geben eine Stimmung vor, die sich wie ein bleierner Schleier über den Film legt und bis zum Ende anhalten soll: irritierend, kühl, beklemmend. Der Zuschauer lernt in diesen Minuten Brandon kennen, einen attraktiven und gepflegten New Yorker Mitte dreissig, der sich morgens – Patrick Bateman aus American Psycho gleich – für die Arbeit zurecht macht und mit der U-Bahn ins Büro fährt. Dem hübschen Mädchen auf der Sitzbank gegenüber wirft er lange, unverwandte, harte Blicke zu. Blicke, die weder Freundlichkeit noch Natürlichkeit signalisieren, sondern Verlangen und Begehren. Irritiert steigt die junge Frau aus, flüchtet geradezu und verliert sich eilig in der Menschenmenge. Brandon ist, soviel wird aus dem Prolog deutlich, ein Getriebener, dessen unterschwelliger Zorn nur durch stete sexuelle Befriedigung im Zaum gehalten werden kann. Er onaniert unter der Dusche oder geht mal schnell im Büro aufs Klo. Er bestellt Prostituierte zu sich nach Hause oder reisst Frauen auf – nur um sie nach dem Sex lieblos wieder fortzuschicken. Er schafft es sogar, bei einem geselligen Umtrunk mit Arbeitskollegen jene aufregende Schönheit zu verführen, mit der sein jovialer, extrovertierter Chef David den ganzen Abend über vergeblich zu flirten versucht hatte. Wobei «verführen» das falsche Wort ist. Der schnelle Sex in einer Seitengasse hat nichts Freudvolles und Befriedigendes mehr, sondern etwas animalisch Gequältes und Verzweifeltes. Shame ist die raue, unverstellte, kompromisslose Studie eines Sexsüchtigen. Es geht um Gebrauch und Missbrauch von Körpern, um Nacktheit und sexuelle Abweichung, um den Konsum von Gefühlen und um Sex als Surrogat für Versagungserlebnisse. Lust ist hier zur Last geworden, und das macht den Film so unbehaglich. Ein Unbehagen, das sich auch in den sorgfältig kadrierten Bildern wiederspiegelt. Das nächtliche New York ist hier nicht nur der verführerische, städtische Hintergrund, der allein erst amouröse Abenteuer ermöglicht. New York verstärkt mit seiner sterilen und gläsernen Architektur, die bis in die Innenräume mit ihren strengen Set Designs vordringt, Brandons Sucht erst noch.
Shame führt Regisseur Steve McQueen und Hauptdarsteller Michael Fassbender zum zweiten Mal zusammen. Bereits in Hunger, McQueens Kinodebüt über den inhaftierten, im Hungerstreik befindlichen IRA-Mann Bobby Sands, hatten sie 2008 gemeinsam eine Darstellung erarbeitet, die Fassbender alles abverlangte, körperlich vor allem. «Wenn ich ihn auf der Leinwand sehe, dann spielt er nicht. Ich glaube ihm», wird McQueen in den Produktionsnotizen zitiert. Und: «Er ist bereit, immer weiter zu gehen, um dem näher zu kommen, das uns als Menschen definiert.» Auch hier lotet der Schauspieler wieder die Extreme seiner Figur aus. Fassbender, der innerhalb kurzer Zeit mit Matthew Vaughns X-Men: First Class, David Cronenbergs A Dangerous Method, Cary Fukunagas Jane Eyre und Steven Soderberghs Haywire wider Willen zum Star geworden ist, agiert sehr konzentriert, sehr zurückgenommen, fast teilnahmslos. Kaum einmal, dass er spricht. Trotz der sparsamen Mimik und Gestik gelingt es ihm, den inneren Zwiespalt seiner Figur nach aussen zu tragen. Seine Attraktivität, seine Körperlichkeit, seine Männlichkeit, seine chamäleonartige Wandlungsfähigkeit, wenn es zu seltenen, dafür aber umso erschreckenderen Zornesausbrüchen kommt – Fassbender hat sich die Figur bewundernswert zueigen gemacht.
Brandons freudlose und einsame Routine wird empfindlich gestört, als er eines Abends in sein spartanisch eingerichtetes, unpersönliches Apartment zurückkehrt. Eine junge Frau sitzt in der Badewanne, und schon ihr Verhalten deutet darauf hin, wie neurotisch, labil und hilfsbedürftig sie ist. Offensichtlich kann sie nirgends woanders hin, und Brandon gelingt es nur schlecht, seinen Groll und seinen Widerwillen zu verbergen. Wie sich herausstellt ist Sissy, so der Name der jungen Sängerin, seine Schwester. Das einzige, was sie gemeinsam haben, ist ihre Familiengeschichte, und daran wird Brandon nicht gern erinnert, geschweige denn, dass er nun in Sissys Lebenskrise mit hineingezogen werden will. Die Ereignisse eskalieren, als Brandon mitanhören muss, wie seine Schwester und der verheiratete David miteinander schlafen. Dass seine sorgfältig aufrechterhaltene Fassade so schnell zusammenbrechen würde, hätte er nicht gedacht. Und auch der Versuch, mit einer interessanten Arbeitskollegin eine ganz normale Verabredung zu treffen, ist zum Scheitern verurteilt.
Man könnte dem Drehbuch von Steve McQueen und Abi Morgan vorwerfen, dass mit Auftauchen Sissys und der anklingenden problematischen Vergangenheit sich zuviele psychoanalytische Erklärungsversuche in den Film schleichen. Doch durch den Antagonismus der Geschwister kommt zusätzliche dramatische Reibungsfläche in den Film, Sissys Hilfsbedürftigkeit gibt ihm erst die notwendige Seele. Zur anrührendsten Szene von Shame gerät darum ihr Auftritt in einem kleinen Musik-Club. Sie singt «New York, New York», sehr eigenwillig, sehr zerbrechlich, sehr traurig und doch wundervoll. Der Klassiker, den Liza Minnelli und Frank Sinatra so berühmt gemacht haben, erscheint plötzlich nicht mehr in einem so strahlenden Licht, die Bedeutung der Worte verschiebt sich. Mit einem Mal lässt Brandon seine Maske fallen. Er ist überwältigt von dem schönen Gesang und beginnt zu weinen. Für einen kurzen Moment zeigt er menschliche Gefühle.