«Sie war im Pool? Jesus Maria!» Jessica bringt mit ihrer Ankunft in Saõ Paulo die Welt ihrer Mutter Val völlig durcheinander. Die dunkelhäutige Val ist seit langem Nanny und Hausangestellte im Haus einer reichen weissen Familie: des Intellektuellen und Künstlers Carlos, der erfolgreichen Geschäftsfrau Barbara und ihres Sohns Fabinho, der kurz vor dem Studium steht. Seit Fabinho klein war, kümmert sich Val liebevoll um ihn. Dass sie eine Tochter im selben Alter hat, die sie als Kleinkind bei Verwandten im Nordosten des Landes zurückliess, erfahren wir bereits in der Eröffnungssequenz, einer Rückblende in die Anfänge von Vals Anstellung: Sie spielt mit dem kleinen Fabinho am Swimmingpool, alles erscheint friedlich und perfekt, bis der Kleine seine vielbeschäftigte Mutter vermisst. Val tröstet ihn, kann aber im nächsten Augen blick ihre eigene Tochter am Telefon nicht beruhigen, denn sie wird nie nach Hause zurückkehren.
Der vierte Spielfilm von Anna Muylaert geht der Frage nach, welchen Stellenwert die Mutter in der brasilianischen Gesellschaft hat, und weitet diese Frage auf die verdrängten Klassenunterschiede aus. Muylaert begann 2003 an ihrem Drehbuch zu arbeiten, nach der Wahl von Präsident Lula, als sich vieles zu verändern begann. Doch in Brasilien ist die dunkle Hautfarbe fast automatisch mit Armut verbunden. Die «democracia racial» ist ein Mythos geblieben, denn die Abschaffung von Rassenzuschreibungen kann Rassismus nicht verhindern, im Gegenteil, sie erschwert eine echte Diskussion und Kritik.
Vals Leben scheint in Ordnung zu sein. Sie wird von ihren Arbeitgebern herzlich behandelt, und für Fabinho ist sie die wichtigste Bezugsperson. Auch ihre schüchterne Frage, ob ihre unterdessen erwachsene Tochter Jessica für eine Zeit lang bei ihr wohnen darf, wird zunächst mit Selbstverständlichkeit bejaht. Die ungeschriebenen Gesetze, die die Schichten trennen, werden aber bald offenkundig. Val bewohnt in der Villa ein bescheidenes Zimmer und hat sonst keinen Platz im Haus. Auch die Küche, von der aus sie die Diskussio nen am Esstisch im Wohnzimmer belauscht, wird von der Familie beansprucht. Vor allem aber anhand des Swimmingpools verhandelt Muylaert die sozialen Unterschiede. Der Pool ist für Angestellte tabu, er ist das Privileg der Weissen, die Errungenschaft, die man Jessica bei ihrer Ankunft stolz präsentiert. Als Jessica später im Spiel mit Fabinho im Pool landet, sind alle entsetzt, die Pool besitzer wie auch Val, die die Regeln verinnerlicht hat. Senhora Barbara gibt daraufhin die Order, das Wasser abzulassen und den Pool zu säubern, wegen einer Ratte, die sie darin gesehen haben will.
Jessica überschreitet vom ersten Augenblick an Grenzen, mit einem Selbstbewusstsein, das die weisse Oberschicht verwundert und Senhor Carlos fasziniert. Sie vertritt eine neue Generation, die sich selbstverständlich im luxuriösen Gästezimmer niederlässt und die weiss, dass sie durch Bildung sozial aufsteigen kann. Dass Jessica Architektur studieren und damit die Gesellschaft verändern will, wird von der Familie zunächst belächelt. Muylaert setzt die Archi tektur auch auf filmischer Ebene als Symbol für Gesellschaftstrukturen ein. So inszeniert sie räumliche Grenzen als soziale Grenzen: zum Beispiel die Küchentür, durch die Val Einblicke ins Wohnzimmer erhält, aber von der Familie ausgeschlossen bleibt. Jessica allerdings nimmt Küche, Gästezimmer und Pool ganz selbstverständlich ein.
Muylaert inszeniert einen direkten Vergleich und lässt Jessica und Fabinho an der Prüfung fürs Architekturstudium teilnehmen. Daran verdichtet sich nicht nur das Thema der Klassenunterschiede, sondern auch das der «zweiten Mutter». Als Fabinho die Prüfung nicht besteht, ist es Val, die ihn in den Arm nehmen darf, nicht seine leibliche Mutter. Dann erfährt Val allerdings, dass ihre Tochter mit einem Glanzergebnis bestanden hat. Das ist auch für sie ein Sieg, eine Befreiung. Erst jetzt wagt sie sich in den nur noch halb vollen Swimmingpool, wenn auch nur heimlich und nachts. Ein kleine grosse Eroberung.
Regina Casé, die Val spielt, ist in Brasilien ein Star und der strahlende Mittelpunkt des Films. Sie verleiht der Figur ein scheinbar unendlich grosses Herz, Bescheidenheit und eine grosse Portion kindlicher Freude. Anna Muylaert liess Casé viel Freiraum, die Figur zu entwickeln. Das intelligente Drehbuch setzt die humorvolle und doch kritische Geschichte von einer kleinen grossen Befreiung in stimmige Bilder um, ohne schwarzweisszumalen – mit Happy End, das Hoffnung für die nächste Generation spüren lässt.