Gleich zu Beginn der Erzählung in Napoleon, am 23. Vendémiaire im Jahr II der Republik, verliert Marie-Antoinette ihren Kopf. Wortwörtlich unter der Guillotine. Da wird – filmisch – nicht weggeschnitten, im Gegenteil. Die Kamera bleibt auf ihrem Gesicht, bis dieses von der fallenden Klinge abgetrennt zur Seite kullert. Cut.
Und weil das noch nicht genug war, packt der Henker ihre weissen Locken und streckt den bluttriefenden Kopf dem grölenden Pöbel entgegen: Schaut, die Monarchie ist am Ende. Vive la France, vive la révolution, vive la république. Was Regisseur Ridley Scott hier zeigt: Die Terrorherrschaft in den Jahren nach der Französischen Revolution war schrecklich; schrecklicher ist sie nur noch in 4K und Dolby Atmos.
Aber gerade weil es heute geht, schauen wir ganz genau hin. Es folgen zweieinhalb Stunden Blutvergiessen, von der Belagerung von Toulon bis zur Schlacht von Waterloo, von der rücksichtslosen Massakrierung des royalistischen Aufstands in Paris bis zu den elendig in einer vereisten Pfütze bei Austerlitz ertrunkenen Österreichern. Von Kanonenkugeln zerfetzte Pferde werden uns genauso aufs Auge gedrückt wie reihenweise niedergemähte Infanteristen. Napoleons brutale Herrschaft wird hier erschöpfend erzählt. Nicht unbedingt im Sinne der Vollständigkeit, sondern weil die schiere Schlachtorgie nicht nur pazifistische Hirne schlicht plättet.

Joaquin Phoenix als Napoleon Bonaparte. Bild: Sony Pictures/Apple Original Films
Scott zeigt in Nahaufnahme, wie blutig es zu dieser Zeit in Europa zu und her ging. Darüber hinaus zählt er bei den Gefallenen ganz genau nach und kommt auf eine erstaunlich runde Zahl: 3 Millionen Menschen sollen durch Napoleon Bonapartes Zutun zwischen 1793 und 1815 ihr Leben gelassen haben, wie uns vor dem Abspann bescheinigt wird. Also mehr als eine Million pro Stunde Laufzeit beim 158 Minuten langen Spektakel.
Die Botschaft, so scheint es: Napoleon ist das epischste aller Epen. Wobei exorbitant lange Filme heutzutage an der Tagesordnung sind. Mit Indiana Jones and the Dial of Destiny (154 Min.), Oppenheimer (180 Min.) und Killers of the Flower Moon (206 Min.) haben die Opas des Blockbusterkinos dieses Jahr die Latte so hoch gesetzt wie nie. Und der 85-jährige Ridley Scott muss sich bei diesen Längenvergleichen nicht schämen. Kinofilme, so küchenpsychologisierte Vanity Fair diesen Sommer über die Frage nach den ausufernden Filmlängen, würden im aufmerksamkeitsdefizitären Tiktok-Zeitalter zur einer Art Artefakt, die dem kurzweiligen Streaming entgegenstehen. Doch Napoleon bricht selbst mit dieser Faustregel. Am epischsten wird es nämlich auf Apple TV+ mit dem vierstundenundzehnminütigen Director's Cut, den sich Scott herausgehandelt hat. Alten, arrivierten Männer, so scheint es, hat dieser Tage kein Produzent und kein Cutter der Welt mehr etwas entgegenzusetzen.
Doch zurück zum Film. Die rohe Gewalt des französischen Feldherrn und die obsessive Langzeitbetrachtung des militärischen terreurs sind schliesslich nur die halbe Geschichte. Dazwischen blüht so etwas wie eine Liebesgeschichte auf. Joséphine de Beauharnais hat sich ins Herz des künftigen empereurs geschlichen. Auch dank ihrer Verbindungen in die Aristokratie gelingt Napoleon überhaupt erst der Aufstieg in der Armee. Zusammen steigen sie nach seinen militärischen Erfolgen zum kaiserlichen Paar auf und gelänge es nur, einen männlichen Nachfolger zu zeugen, wäre die Story um das royal couple perfekt.

Die Krönung von Joséphine de Beauharnais zur Kaiserin. Bild: Sony Pictures/Apple Original Films.
Scott gibt der intimen Verbindung zwischen Kaiser und Kaiserin viel Raum. Briefe von Napoleon an seine Frau werden immer wieder aus dem Off verlesen. In den Momenten, in denen die toxische Anziehung der beiden ihre Höhepunkte erreicht, blühen Joaquin Phoenix und Vanessa Kirby geradezu auf. Kurz darauf gehts wieder ans lieblose Rammeln, Tellerrumschmeissen und Leute in den Tod schicken. Napoleon, das kriegstreibende Schwein, soll nur nicht zu sympathisch rüberkommen. Das schafft Phoenix mit seinem Hang für psychotische Figuren freilich mit links.
Statt zur Geburt eines Thronfolgers kommt es dann zu einem anderen historischen Moment: Der ersten zivilen Scheidung unter dem Code civile, der fünf Jahre zuvor eingesetzt wurde und wohl das langlebigste Vermächtnis Napoleons an Europa ist. Die Szene, in der Joséphine eine offenbar von ihrem Mann geschriebene Scheidungserklärung verlesen muss, ist die bewegendste und entlarvendste des ganzen Films.
Bleibt am Schluss die Frage, weshalb Scott diesen Schinken gemacht hat. Ist es der Schinken, um alle Schinken zu beenden? Filmt sich das Kino mit den letzten Grossmeistern des 20. Jahrhunderts seinem Ende entgegen? Ist dies das letzte, grosse, moralische Lehrstück einer der letzten grossen Kinomänner? Napoleon gebärdet sich mit seiner wenig charmanten Darstellung des grand empereurs nämlich geradezu als eine Art Anti-Kriegsfilm.
Man mag die Auflistung der Opferzahlen zum Schluss als Warnung vor dem Absolutismus betrachten, der heute Europa vom Osten her wieder bedroht. Warum dann aber diese Versessenheit auf Kriegsstrategie und Schlachtverläufe (die im Director's Cut hoffentlich historisch präziser werden)?
Scott hat mit seiner Filmografie von Gladiator bis The Last Duel mehrfach eine Affinität für historisierte Brutalität – und nebenbei bewegende Figuren und Geschichten – bewiesen. Vielmehr als eine Warnung vor der Autokratie wirkt das Biopic zu Napoleon deshalb wie eine wenig kaschierte Ode an einen der streitbarsten Männer der jüngeren Geschichte. Und der moralische Unterton wie eine schlechte Entschuldigung für eine altbackene Geschichtserzählung von oben.