Damals, erzählt Hannah Schygulla, damals seien sich die Filmteams, womit nur eine Handvoll Leute gemeint sein kann, in den Strassen Schwabings begegnet, und während auf der linken Strassenseite der eine Film entstanden sei, habe man auf der rechten einen anderen gedreht. Eine Situation wie im Death Valley, wo es vorkam – John Ford erzählte das –, dass die Western-Regisseure beim Drehen mit den Rücken aneinanderstiessen. «Damals»: das war Ende der sechziger Jahre, die nicht nur die Zeit der «unruhigen» Studenten und revolutionärer Aktionen und Hoffnungen waren, sondern auch den Aufbruch eines neuen Films in Deutschland markierten. Oder besser: neuer Filme in Deutschland. Denn das waren viele Teile, die ein Ganzes nie geworden sind.
In den Filmgeschichtsbüchern und im internationalen Filmgedächtnis ist der neue deutsche Film – oder zu Anfang noch: der «junge deutsche Film» – registriert mit den Namen von Kluge, Straub/Huillet, Schlöndorff, der Brüder Schamoni, von Reitz und Ula Stöckl, Syberberg, Fleischmann und Hauff und bald auch Herzog, Fassbinder, Wenders, Schroeter, Rosa von Praunheim, Margarethe von Trotta, Herbert Achternbusch, Theodor Kotulla. Kaum einmal wahrgenommen und erst recht nicht gewürdigt aber wird in der einschlägigen Literatur, der internationalen wie der nationalen, dass es ausser diesen einsamen und stolzen Flaggschiffen auch noch den Konvoi der Lemke, Thome, Spils, Eckhart Schmidt und Klick, der Roger Fritz, Spieker, Pfleghar, Böttger und Schaaf, der Brandner, Boldt, Ehmck, Rischert und Verhoeven gab, mit einer breiten Front von Filmen, die oft auch ein breiteres Publikum als jene hoch individuellen, durchweg persönlichen, zum Teil geradezu autistischen Spitzenwerke fanden. Wenigstens in Schwabing, dort, wo die meisten der Filme der zweiten und dritten Reihe entstanden waren und auch vorwiegend spielten. Der neue deutsche Film vom Ende der sechziger bis tief in die siebziger Jahre hinein, das war eine Explosion, die viele Namen und Talente aus dem schieren Nichts emporschleuderte, aus einem Nichts an wirtschaftlicher Realität und einem nahezu kollektiven Traum, dem Traum vom Kino, dem Ort, wo man zugleich allein und mit anderen träumt. Doch nicht anders als wie bei einer Explosion stob alles bald vollkommen auseinander. Vielleicht war es die Beschleunigung der Zeit und sicher die Rastlosigkeit eines Interesse und Aufmerksamkeit wechselnden Publikums dieser rasant boomenden Dekade, die weder Kontinuität, “Gewöhnung”, noch Stabilität entstehen liessen. Bei den Westdeutschen Kurzfilmtagen in Oberhausen, dort, wo 1962 das ebenso kühne wie waghalsige «Manifest» gegen den alten Film und für den neuen, den es erst geben sollte, verkündet worden war, in Oberhausen kamen sie gelegentlich noch zusammen mit ihren Kurzfilmen, die rasch “erwachsenen” Kluge/Reitz/Schamoni/Straub sowie Spils und Fassbinder, Thome und Lemke. Doch was Journalisten, nicht nur die deutschen, als Einheit erkennen wollten, war nur die Addition von Einzelgängern, die keinen gemeinsamen Stil, sondern nur ein gleiches Ziel hatten: lange Spielfilme zu machen, Erfolg zu haben, berühmt zu werden. Dieser «neue deutsche Film» ist nie das deutsche Kino gewesen, in dem schon längst die Importe die Leinwände beherrschten und die Säle füllten.
Allenfalls bei Fassbinder, der in Straubs Der Bräutigam, die Komödiantin und der Zuhälter (1968) zusammen mit Hannah Schygulla gespielt und dem Straub für Liebe ist kälter als der Tod eine seinerzeit sensationelle Kamerafahrt entlang dem Rotlichtstrich der Landsberger Strasse geschenkt hatte, allenfalls bei Fassbinder, der wie ein Magnet viele anzog und andere abstiess, liefen Fäden zusammen zu dem Geflecht vor allem von Darstellern, die bei anderen in Schwabing angefangen hatten. Aller liebstes Kino war das «Türkendolch», und Frühstück bis nachmittags gab es im «Café Extrablatt». Hier oder in der Bretterbudenbar «Bungalow» traf man neben all den anderen auch Fassbinder und Wenders, die bald in der ersten Liga spielen sollten. Und den späteren Terroristen Andreas Baader, mit dem Lemke befreundet war. Nicht von ungefähr machte Lemke den seinerzeit öffentlichen Skandal provozierenden Fernsehfilm Brandstifter (Darsteller waren unter anderem Iris Berben und Margarethe von Trotta), in dem aus Protest gegen den Krieg in Vietnam Feuer in ein Kaufhaus gelegt wird und somit genau das geschieht, was Baader und Gudrun Ensslin in Frankfurt am Main versucht hatten.
Fassbinders Star war die Schygulla; sie spielte viele Jahre lang unter keinem anderen Regisseur. Lemkes Star Berben stand auch bei Thome vor der Kamera (Detektive), dessen weiblicher Star Uschi Obermeier war, während Spils Uschi Glas, lange bevor deren Karriere in den Kosmetiktöpfen der Fernsehwerbung ertrank und in den Schlagzeilen der Boulevardpresse zerfasern sollte, zu Starruhm verhalf mit Zur Sache, Schätzchen (1968). Das war der erfolgreichste Film der Epoche, weil er, fast zeitgleich mit dem Beginn der terroristischen Aktionen, den Zeitgeist gewaltloser Gleichgültigkeit angesichts des mit Höchstgeschwindigkeit grassierenden Wirtschaftswunders genauer traf, als Baader&Meinhof glauben wollten. Grenzenlose Wurschtigkeit, das Leben in den Tag hinein, die Verarschung der Polizei und anderer Autoritäten, wie etwa auch in Peter Zadeks Ich bin ein Elefant, Madame (1968), waren angesagt. Und das Sprücheklopfen. Spils’ genialischer Sprüchemacher Werner Enke («… das wird bös enden»), der die Szene mit Wörtern wie «schlaff» und «fummeln» bereicherte, kam aus den Kurzfilmen Lemkes. Dort und bei Thome hatte auch Fassbinders eiskalter Engel Ulli Lommel (Liebe ist kälter als der Tod; Warnung vor einer heiligen Nutte; Rio das Mortes) begonnen, der spätere – und bis zum heutigen Tag – Regisseur von B-pictures in den USA. Auch der deutsche Gangsterdarsteller der Epoche, Marquard Bohm, der zugleich Belmondo und Bogart sein wollte, hatte, bevor er in die Filme Fassbinders kam, bei Lemke (Brandstifter), Thome (Detektive, Rote Sonne), Klick (Deadlock) gespielt. Und Kameraleute waren etwa Niklaus Schilling (Detektive), der später, mit der Schauspielerin Elke Haltaufderheide (ebenfalls Detektive) auch als Produzentin, eigene Filme als Regisseur machen sollte, wie Robert van Ackeren, der bei Brandstifter, dann bei Schroeters hoch artifiziellem Eika katappa und Rosa von Praunheims betont kunstlosem Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt die Kamera führte, ehe er in Berlin ebenfalls eigene Filme machte.
Nach Berlin gingen auch Thome und Klick oder Rosa von Praunheim, der von Frankfurt am Main kam. Aber Berlin, wenigstens West-Berlin, war, trotz der Kieze von Kreuzberg, Wedding und Neukölln, nicht die Stadt, in der sich Schwabing und die Leopoldstrasse reduplizieren liessen, weil man irgendwo am Cotbusser Tor oder auch am Kurfürstendamm wohnte, aber nicht mehr in der Ainmiller- oder Giselastrasse. Den von der Deutschen Film- und Fernsehakademie – Fassbinder hatte dort nicht einmal die Aufnahmeprüfung bestanden – geschassten Agitationsfilmern Bitomsky, Farocki, Willutzki, Christian Ziewer (Liebe Mutter, mir geht es gut) war die Präsenz der sich in Vietnam korrumpierenden Schutzmacht USA in Berlin allzu gegenwärtig, als dass sie, wie die Münchner, das Hollywoodkino hätten nachstellen wollen, und das mit lächerlich geringen Budgets. Berlin (West) war die Walstatt der Einzelkämpfer und der Frauen wie Ulrike Ottinger (Bildnis einer Trinkerin), Helke Sander (Redupers) und Marianne Lüdcke (Die Wollands). Und Thema war in den dem Dokumentarischen stets sehr nahen Filmen vor allem die Arbeitswelt und das proletarische Milieu, das den Bürgersöhnen von Schwabing vollkommen fremd war. Oder die Selbstbefreiung der Frau.
Nur dem Scheine nach – und für alle, die es brauchten – war auch Thomes Rote Sonne ein Film der Frauenemanzipation. Vier junge Frauen, sie leben als Kommune zusammen, haben sich gegenseitig versprochen, jeden Mann nur fünf Tage zu geniessen und ihn dann zu töten. Die Mordtaten, ohne jede Emotion vollzogen (und gefilmt), sind nur ein technisches Problem, das ebenso wie die Entsorgung der Leichen leicht zu lösen ist. Das biedere Ambiente einer Altbauwohnung wird durch Farbkomposition, Gardinen- und Faltenwurf und durch Lichtgebung überhöht, und «aussen kennt man alles …, jede Strasse, jedes Haus, jedes Café» (Frieda Grafe): eben Schwabing. Bis zur hoch sentimentalen, keinem Kitsch abholden letzten Szene am Starnberger See, wo sich vor der tiefstehenden, die Leinwand nahezu verglühen lassenden Sonne Peggy (Obermeier) und Thomas (Marquard Bohm), die nicht mehr von einander lassen wollen, dem Liebestod anheim geben. Karl Korn überschrieb seine Besprechung mit «Penthesilea 69», womit er zweifellos übertrieb, während Grafe, kokett, wie sie sein konnte, davor warnte, ihre Rezension ernst zu nehmen. Ernst zu nehmen war an Rote Sonne in der Tat nur das Unternehmen, viele Elemente des amerikanischen Kinos (Krimi, Gangsterfilm, Hawks-Komödie) in einer Art von Versuchsanordnung eines Films über Filme zu integrieren. Was schon Detektive (mit Bohm und Lommel, Obermeier und Berben) gekennzeichnet hatte als das Unterfangen, zwei junge Männer, die sonst nichts mit sich anzufangen wissen und nur einen einträglichen Job machen wollen, einen amerikanischen Krimi spielen zu lassen, den Krimi, der dieser ganze Film zu sein vorgibt.
Drehbuchautor von Detektive und Rote Sonne (die keine «Autorenfilme» sein sollten) war Max Zihlmann, dessen Einfluss auf die frühen Filme der Schwabing-Connection nicht zu übersehen ist. Im «Türkendolch» mit dem Virus aus Hollywood infiziert, verstand er es vor allem, in seinen Drehbüchern Hollywood-Budgets auf den Geldbeutel der Schwabinger Filmemacher herunterzumendeln. Erhalten blieben dabei und übernommen wurden der möglichst inhaltlose Oberflächenreiz, der auf nichts anderes verweisen wollte als auf sich selbst, sowie die äusserlichsten Parameter und Merkmale der amerikanischen Filme wie Struktur des Handlungsablaufs, Bildaufbau, Beleuchtung oder Make-up und Einkleidung der Darsteller. Der stets blütenweisse Anzug vor allem Bohms, gedacht als das charakteristische Outfit des amerikanischen Gangsters, er war lange auch das bevorzugte Habit Fassbinders, ehe der sich zu Lederjacke, Knobelbecher und zu schwarzen Seidenhemden bekannte. Nicht das Leben machte die Filme, sondern das Leben wurde vom Kino geprägt. Und fand sich dann in einer Art von doppelter Reduplizierung in diesem Kino wieder.
Wie radikal die Schwabinger Session war, wie tiefgreifend das Schisma, das machte wie kein anderer Klaus Lemke kenntlich. Als er seinen ersten langen Spielfilm 48 Stunden bis Acapulco (1967) drehte, erklärte er: «Mein Film ist ein junger Film, kein Väter-Film» – und «Väter-Filme» waren für ihn die nur kurz vorher entstandenen oder gleichzeitig produzierten Werke von Schlöndorff (Der junge Törless) etwa, von Ulrich Schamoni (Es) oder von Reitz, dessen Erstling Mahlzeiten bei den Filmfestspielen in Venedig dem Film Lemkes vorgezogen wurde. Sehr zum Ärger Lemkes, dem es an Selbstbewusstsein nie gemangelt hat. Bevor er sich seine Drehbücher selber zu schreiben anfing, folgte auch er einem Skript von Zihlmann bei der Reise des «Amateurganoven» (Zihlmann) und Glücksritters Frank von Schliersee nach Mexiko und in den Tod, und das sollte eine Reise sein, deren Abenteuer nur zu beweisen hatte, dass es keine Abenteuer mehr gibt. Womit 48 Stunden bis Acapulco, dem «Schwabinger Traum von einem Action-Film» (Wilhelm Roth), schon zu viel Bedeutung aufgeladen ist. Denn auch Lemke ist wie der Thome der Schwabinger Zeit ausschliesslich am Oberflächenreiz interessiert, an Handlung, Rhythmus, Bewegung. Alles, was ausserhalb seiner selbst ist, oder was über die pure Bildlichkeit, die reine Präsenz des Films hinaus zu gehen drohen könnte, ist radikal abzuweisen und auszuschliessen. Immerhin war 48 Stunden bis Acapulco, bevor Wenders mit Alice in den Städten (1973) nach Amerika aufbrach, das erste deutsche Road Movie, und das nicht nur für den Protagonisten, sondern vor allem für den Filmemacher. Der kann seinen Helden in Situationen schicken, die sich weniger aus der Geschichte ergeben, die angeblich erzählt wird, als vielmehr aus der Lust des Regisseurs, einen Ortswechsel vorzunehmen.
Anders als bei Lemke und Thome ist die Nervosität Roland Klicks auf die innere Verfassung seiner Personen gerichtet. Deadlock, mit Mario Adorf und Marquard Bohm 1970 entstanden, diese Abbreviatur eines Gangsterfilms mit optischen Elementen, die eher aus dem Italo-western als aus Hollywood stammen, ist ein Drama, das vom Set, einer Salzwüste, vorangetrieben wird: das Aussen kehrt sich nach innen, greift ein in die Psyche des Personals und ist niemals nur Dekor und die Selbstbefriedigung optischer Reize. Deadlock ist nicht zuletzt der Film einer Entdeckung: der Mascha Elm Rabben, deren verwirrende laszive Sinnlichkeit die Schwabinger Uschi-Beauties Obermeier & Glas auf das Normalmass unaufregsamer Pin-ups zurückstutzte. Klick, der nur relativ wenige Filme gemacht hat, dafür aber keinen zum zweiten Mal, hatte schon in Supermarkt dem deutschen Kino einen bisher unbekannten Darsteller gewonnen, Charly Wierzejewski. Dieser Willi, Trebegänger und Streuner und aus jedem sozialen Gefüge gefallen, ist der Fremde schlechthin, dem selbst seine Tat, der Überfall auf einen Supermarkt, so fremd bleiben muss wie die Stadt (Hamburg) und ihre Menschen. Die Aktion, ja der ganze sehr strikt und schnörkellos gebaute und erzählte Film: sie laufen gleichsam neben ihm her. Bestürzende Fremdheit, leidenschaftliche Kühle der Inszenierung waren schon das Signum von Bübchen, Klicks erstem langen Kinofilm (1968), denn erklärt wird nicht, wieso der zehnjährige Achim seine knapp dem Babyalter entwachsene Schwester tötet, indem er das Kind mit einer Plastiktüte erstickt, aus Unachtsamkeit, Spieltrieb, Neugier, die zu befriedigen ein Junge auch sein Spielzeug zerlegen kann. Das Milieu ist das Kleinbürgertum in einer Neubau-Reihenhaus-Siedlung am Stadtrand, und auch hier darf wie in Chabrols Bourgeoisie nichts sein, was die Symmetrie des Lebens ins Chaos verschiebt. Und wie in Schlöndorffs Mord und Totschlag (1966) und ein Vierteljahrhundert später in Michael Hanekes Bennys Video besteht die Hauptaufgabe darin, unwillkommene Leichen mit einer Akribie zu entsorgen, die das Bürgertum auch der Entsorgung unvorteilhafter Geschichtstatsachen zuzuwenden pflegt.
Kameramann von Bübchen und Deadlock, wie vorher schon bei Klicks Jimmy Orpheus, war der in vielen Handschriften geläufige Robert van Ackeren, der seine eigene, unverwechselbare optische Signatur erst mit eigenen Filmen (und in Berlin) gewinnen sollte. Auf Blondie’s Number One mit dem Nacktmodel Gabi Larifari (Gabrielle Richens), einem minimalistischen Szene-Porträt, folgte mit Harlis und der von Klick übernommenen Mascha Rabben an der Seite der Larifari der Film, in dem van Ackeren endgültig zum eigenen optischen Stil fand, zum Oberflächenreiz der weiblichen Epidermis, der auch noch die Bestseller Die flambierte Frau (mit Gudrun Landgrebe) und Die Venusfalle (mit Sonja Kirchberger) aus den Jahren 1982 und 1987 prägen wird. Und auch hier, wie bei den Schwabingern, diktiert die Haut dem Fleisch, ist die Form der Inhalt, des Lesben-Dramoletts (Harlis) so gut wie des Prostituierten-Dramas oder der ironischen Tragikomödie vom männlichen Wahnverlangen nach einer Frau, die portofrei leibhaftig aus dem «Playboy» ins Bett der Begierde kommt.
Van Ackeren ist es so wenig wie Klick (und total anders als Fassbinder) daran gelegen, Darsteller nicht nur zu entdecken, sondern auch mit weiteren Filmen zu pflegen. Auch Bübchen (späterer Titel: Der kleine Vampir) hatte, wie schon Supermarkt und Deadlock, ein neues Gesicht präsentiert, in einer Nebenrolle (wie im Fall Rabben) die junge Schauspielerin Renate Roland, deren, anders als bei Rabben, in bürgerlich-nachbarlicher Wohlerzogenheit gezügelte, aber zu jedem Auf- und Ausbruch bereite Sinnlichkeit eine Karriere versprach, die sich nicht erfüllen sollte. Man mag es ein Versäumnis des deutschen Films der siebziger Jahre nennen, dass es ihm nicht gelungen ist, veritable Stars aufzubauen und ein Starsystem zu etablieren. Aber dergleichen kann nur in einer funktionstüchtigen Korrespondenz zwischen dem Kino und einem Publikum gelingen, zu dessen kulturellem Selbstverständnis – wie etwa in Frankreich – das Kino gehört, wie in Deutschlands bürgerlichem Publikum eben nicht das proletarische Medium, sondern allenfalls Theater und Oper.
So wenig wie in Schwabing, wo die Regiestars ihren eigenen Schauspielern die Show stahlen, konnte die Etablierung eines Starsystems in Berlin-West gelingen, wo das Theater regiert und die meisten Filmschauspieler zuerst Theaterschauspieler sind. Entschieden günstiger floss der Strom durch die kommunizierenden Röhren gleich nebenan, in Berlin-Ost. Die Konzentration aller Filmproduktion bei der DEFA und ihren diversen Arbeitsgruppen begünstigte die Förderung von Autoren, Dramaturgen, Regisseuren und Schauspielern – wie sie andererseits auch Karrieren behindern, wenn nicht verhindern konnte. Aber da mochte Manfred Krug, nach Biermann-Protest und Übersiedlung in den Westen, aus dem Filmschauspieler-Lexikon der DDR getilgt werden, aus dem Gedächtnis seines Publikums war der absolute Star so wenig zu vertreiben wie Armin Mueller-Stahl. Krug hatte zum Beispiel in gleich zwei der Filme mitgespielt, die 1966 auf Geheiss der Partei aus den Kinos zurückgezogen wurden oder erst gar nicht für die Öffentlichkeit zugelassen waren. In der kritischen Komödie Wenn du gross bist, lieber Adam von Egon Günther, in der eine «Wahrheitslampe» die Existenz des Staats bedroht, ist er ein unorthodoxer Pfarrdiakon, und in Spur der Steine von Frank Beyer der Brigadier Balla, der mit seiner Baubrigade auf einer Grossbaustelle in den Streik tritt, weil die Materiallieferung mal wieder nicht funktioniert. Beyer und Günther mussten ebenso wie der Altmeister Kurt Maetzig (Das Kaninchen bin ich) jahrelang pausieren, ehe man sie wieder Filme machen liess. Wie Heiner Carow, dessen nahezu apokrypher Film Die Russen kommen, mit stilistischen Anlehnungen an die Nouvelle Vague und auch Fellini, ohne jemals vorgeführt worden zu sein weggeschlossen wurde und später nicht mehr vollständig zu rekonstruieren war. Was nicht hinderte, dass Carow mit der Plenzdorf-Verfilmung Die Legende von Paul und Paula 1973 der wohl grösste Publikumserfolg eines DEFA-Films beschieden war. Weil die kritisch-groteske Geschichte einer Liebe, die gegen den banalen realsozialistischen Alltag auf die Kraft der Träume setzt und mit Angelica Domröse und Wilfried Glatzeder grandiose Darsteller aufzuweisen hatte, mitten ins Herz eines Publikums traf, das schon nicht mehr glaubte träumen zu dürfen.
Keine Tragödie ohne Satyrspiel. Oder: Wer kennt noch Helga? Wer Oswalt Kolle? Wer kennt den Schulmädchen-Report? In den siebziger Jahren waren sie in aller Munde. Auch bei denen, die Helga kennen zu lernen kein Bedürfnis verspürten. Und Kolle? Der schrieb die Illustrierten voll und strickte an seiner Aufklärungsmasche auch im Kino. Dass die Schulmädchen-Reports es mit ihren überaus massvollen Sexgeschichten auf dreizehn Kinofolgen brachten und dass sie die Hausfrauen-Reports, den Lehrmädchen-Report, den Ostfriesen-, den Hostessen-, den Sex-Träume-Report und den ich-weiss-nicht-noch-was-Report nach sich zogen: vorbei und vergessen, verflimmert und verweht. Nicht so die Millionen, die der Produzent Wolf C. Hartwig einstrich. Oder der andere Westentaschentycoon Alois Brummer, wie Hartwig Vorläufer der Peep-Show. Er hat die Spekulation auf die Lüsternheit des Publikums auf das niedrigste Niveau heruntergefilmt mit dem Klamauk von Geilermanns Töchter, Unterm Dirndl wird gejodelt, Wo der Wildbach durch das Höschen rauscht oder Graf Porno bläst zum Zapfenstreich. Brummer immerhin war früh Objekt des anderen, des erlesenen Kinos der Zeit. Sex-business – made in Pasing hiess der Film, den Hans-Jürgen Syberberg 1969 drehte. Während die Softpornos aus der Schulmädchenzeit warten mussten, bis im letzten Jahr Peter H. Schröder und Hans Günther Pflaum für Arte recherchierten und Hartwig vor die Kamera holten. Und Schlöndorff, Reitz, von Trotta. Und Schygulla. Sie alle hatten in den Siebzigern die Filme kaum einmal wahrgenommen, die in den deutschen Kinos das grosse Geschäft machten – und sie für die Filme aus allen Ligen von Schwabing bis Berlin blockierten. Bis es den Report- und Jodel-Produkten die Verfilmungen der Bestseller von Johannes Mario Simmel nachmachten. Unter anderem Lieb Vaterland, magst ruhig sein, inszeniert von Roland Klick aus der Schwabinger Session.