«Das Klassentreffen» müsste der Film auf Deutsch heissen, der zunächst davon handelt, wie die als Letzte eintreffende Anna ihren ehemaligen Klassenkameraden die Feier des Wiedersehens zwanzig Jahre nach Schulabschluss damit vergällt, dass sie bei Tisch aufsteht und zu erzählen beginnt, wie sie sich während der ganzen gemeinsam verbrachten neun Jahre gefühlt habe: ständig gemobbt, erniedrigt, bedroht und ausgestossen. Der Auftakt erinnert nicht von ungefähr an Thomas Vinterbergs Festen, den Anna Odell «einen phantastischen Film» nennt, der sie «natürlich» inspiriert habe. Doch die namhafte schwedische Künstlerin verfährt bei ihrer raffiniert inszenierten Abrechnung völlig anders als der dänische Regisseur.
Im Unterschied zu Vinterbergs Film, der, obzwar von frischem «Dogma»-Geist erfüllt, letztlich eine traditionell verfasste Geschichte ohne formale Brüche erzählte, operiert Odells beeindruckender Erstling auf mehreren Ebenen und oszilliert beständig zwischen «fiktionaler Rekonstruktion» und «dokumentarischer Fiktion» – indem die Autorin nicht nur souverän die Hauptrolle verkörpert, sondern tatsächliche autobiografische Elemente einsetzt. Laufend wird dem Betrachter auf dramaturgisch ebenso anregende wie intellektuell verführerische Weise der Boden unter den Füssen weggezogen. Nicht von ungefähr wurde diese ungewöhnliche Produktion, die anlässlich ihrer Uraufführung am letztjährigen Filmfestival Venedig den Fipresci-Preis für den besten Erstling erhielt, beim diesjährigen schwedischen Filmpreis, dem Guldbagge, mit dem Goldenen Käfer sowohl für den besten Film wie für das beste Drehbuch ausgezeichnet.
Mit «Talet» ist der erste Teil überschrieben: die Rede, die Ansprache. Von Anna ganz ruhig vorgetragen, wird der Bericht ihrer Versehrungen von der aufgekratzten Runde zunächst mit Verlegenheit, Betroffenheit und Unbehagen, aber doch gefasst aufgenommen. Als sie aber keinerlei Anzeichen von Relativierung oder gar Versöhnlichkeit zu erkennen gibt und ebenso wenig die Absicht, bald mit ihrer Bilanz aufzuhören, eskaliert der Unwille, zumal bei den Frauen, zum alten Hass, bis sie schliesslich von mehreren Männern hinausgeworfen wird. Die Situation ist wieder dieselbe wie einst – mit dem bezeichnenden Unterschied, dass Anna als mittlerweile bekannte Künstlerin, wie auch die andern wissen, sich endlich zu reden getraut.
Auf vertrackte Weise schöpft Anna Odell dabei aus ihrer Biografie. 1973 in Stockholm geboren, gelangte sie durch den 21. Januar 2009 zu landesweiter Berühmtheit, nachdem bekannt wurde, dass ihr scheinbarer Selbstmordversuch mit einem Sprung von der Liljeholms-Brücke (wobei sie von nichtsahnenden Passanten “gerettet” und der herbeigerufenen Polizei in eine Klinik gebracht wurde) bloss eine Inszenierung war – schlimmer: der Erlangung des Magisters an der renommierten Kunsthochschule Konstfack diente. Okänd, kvinna 2009-349701 («Unbekannt, Frau 2009-349701») war eine Kunstaktion, der freilich ein Skript zugrunde lag, das exakt zehn Jahre davor, 1999, Lebenswirklichkeit der 1995 psychisch erkrankten Anna Odell gewesen war. 1999 war das Jahr gewesen, in dem ihre Klasse das «Zehnjährige» gefeiert hatte und Anna, eben erst aus der Psychiatrie entlassen, ohne Ausbildung und Perspektive, sich erneut am untersten Ende der Klassenhierarchie fand. 2009 nun, als das «Zwanzigjährige» anstand, hatte Odell den Plan gefasst, das Treffen zum Gegenstand einer künstlerischen Aktion zu machen, bei der die ganze Klasse mit eingebunden gewesen wäre – bis sie auf Facebook erfahren musste, dass die Klassenzusammenkunft bereits stattgefunden hatte, ohne dass sie eingeladen gewesen wäre.
Zum dokumentarischen Eindruck von Teil eins, «Die Ansprache», trägt bei, dass neben der Regisseurin / Hauptdarstellerin auch (fast) alle der übrigen Mitwirkenden mit ihren eigenen Vornamen auftreten. Nach einem Zwischenspiel, das Anna Odell als Inbild sportlichen Lebenswillens joggend vor malerischer Stockholmer Stadtkulisse zeigt, folgt Teil zwei und damit schockartig die Enthüllung, dass wir soeben bloss einen Film im Film gesehen haben und dass es sich beim eben gezeigten Klassentreffen «um etwas handelte, wie es hätte ablaufen können», wie Odell sagt.
Immerhin scheint nun «Möten», die «Treffen», der zweite Teil, wirklich dokumentarisch zu sein. Doch die Figuren, die wir zum Teil schon kennen, werden, um die realen Personen zu schützen, alle von Schauspielern dargestellt. Einen um die andere nimmt sich die Filmemacherin, die wir in ihrem Atelier, ihrem Arbeitsraum sehen, ihre ehemaligen Klassenkameraden vor, um sie mit ihrem in der Möglichkeitsform gehaltenen Film zu konfrontieren. In intensiven, auch unbehaglich komischen Episoden wird dabei jenes System der Entschuldigungen, der Ausflüchte und Lügen anschaulich, dem das Interesse der Autorin gilt, die glaubwürdig erklärt hat, dass es ihr nie um ihre eigene Befindlichkeit gegangen sei, sondern um gesellschaftliche Analyse. Die Korridore der Macht und der Unterdrückung, scheinen die stummen Kamerafahrten durch lange, leere Gänge suggerieren zu wollen, kennzeichnen gleicherweise die Systeme der Schule wie der Psychiatrie.
Hier, in diesem systemischen Ansatz voller psychologischer Subtilität, berührt sich Anna Odells Film mit jenem andern Meisterwerk des schwedischen Films des vergangenen Jahrzehnts, Ruben Östlunds Play von 2011, der in einem Land der exzessiven politischen Korrektheit anschaulich machte, wie sich naives einheimisches Gutmenschentum von skrupellosen Zuwanderern auf der Nase herumtanzen lässt.