Bernhard Schlinks «Der Vorleser», 1995 erschienen, wurde in neununddreissig Sprachen übersetzt und ausgezeichnet mit vielen internationalen Preisen. Selbst in die Lehrpläne deutscher Gymnasien hat es das Buch geschafft. Schlink, geboren 1944, ist nicht nur Romanautor, der Jurist lehrt Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Berliner Humboldt-Universität. Ein so weit verbreitetes Buch evoziert natürlich das Verlangen nach seiner Verfilmung, und wenn in den USA selbst Oprah Winfrey sich in ihrer TV-Sendung «Book Club» um ein Buch bemüht, dann gibt es in der Publikumsgunst kein Halten mehr.
Ist in vielen Fällen bei der Verfilmung die Romanvorlage eher nebensächlich, weil sie nur die Idee liefert, so darf in diesem Fall mit dem Film auch die literarische Vorlage nach Absicht und Wirkung befragt werden, weil Drehbuchautor David Hare, erfolgreicher Bühnenautor und Regisseur (Wetherby, 1985), sich bemüht hat, Schlinks Buch nur mit minimalen Änderungen analog in die filmische Fassung zu transponieren.
Mitte der fünfziger Jahre in Westdeutschland, in einer Provinzstadt, ist der Einstieg in das Geschehen angesiedelt. Dem fünfzehnjährigen Michael wird, nachdem er sich auf der Strasse hat übergeben müssen, von einer jungen Frau um die Mitte dreissig geholfen. Mehrere Monate muss Michael wegen Scharlach das Bett hüten. Nach seiner Gesundung bedankt er sich bei seiner Helferin, der Strassenbahnschaffnerin Hanna, mit Blumen. Dieser Besuch löst eine Beziehung aus, deren fast tägliche intime Begegnung zum Lebensinhalt des Jungen wird. Michael erkennt, dass Hanna an Geschichten interessiert ist, und er beginnt, ihr vorzulesen, wobei seine Auswahl von Homer bis D. H. Lawrence reicht. Das Vorlesen geniessen beide mit derselben Intensität wie die körperliche Liebe.
Aber eines Tages ist Hanna ohne Nachricht verschwunden. Ihre Wohnung hat sie gekündigt.
Michael hat die Schule beendet, ist Student der Jurisprudenz in Berlin geworden. Eine kleine Arbeitsgruppe besucht mit ihrem Professor ein Gerichtsverfahren gegen fünf Aufseherinnen des KZ Auschwitz. Und da sieht Michael Hanna wieder: Hanna Schmitz, angeklagt des vielfachen Mordes. Wie ein Mensch, der nicht weiss, wie ihm geschieht, gesteht sie ihre Taten und nimmt auch die Urheberschaft für ein belastendes Dokument auf sich, um keine Schriftprobe abgeben zu müssen. Da erkennt Michael, dass Hanna Analphabetin ist und sich dafür schämt. Als Hauptschuldige wird sie zu Lebenslänglich verurteilt.
Michaels Gefühle für Hanna bleiben über die Jahre ambivalent. Ein Besuch in Auschwitz soll ihm ihre Taten vergegenwärtigen. Trotzdem wird er von seiner Zuneigung nicht loskommen. Er wird ihr Kassetten mit seinen aufgezeichneten Lesungen von Büchern ins Gefängnis schicken, und Hanna wird mit Hilfe dieser Kassetten lesen lernen und rudimentär schreiben.
Hanna soll entlassen werden und Michael wird als einziger Bekannter gebeten, für sie Wohnung und Arbeit zu finden. Er besucht Hanna und muss, als er sie dann abholen möchte, feststellen, dass Hanna einen anderen Weg gewählt hat, auch mit Hilfe von Büchern, die das Leben so künstlich schildern, wie Hanna das ihre erlebt haben mag.
Regisseur Stephen Daldry meint, dass es ein «Film über Schuld und Bewältigung» sei. Und er präsentiert in einem der Schlussbilder Ilana Mather, die als Kind das KZ, in dem Hanna gegen Menschen tätig war, überlebt hat und heute in einem mit exquisiten Kunstobjekten und Möbeln ausgestatteten Domizil lebt, «nicht schwach und gebrochen, sondern als starke, moralisch und intellektuell unbeugsame Persönlichkeit» (Daldry).
Oft wirkt der Film, als ob er des Romans bedürfte, um seine Aussage deutlich werden zu lassen, fern von der Emotionalität, die von den Bildern der dargestellten Personen ausgeht. Wir haben es nicht mit einer erklärenden Psychologie der Figuren zu tun, eher mit einem kolportageartigen Zusammenfügen von Geschichten über eine pubertäre Entdeckung der Sexualität und einer über die schuldhafte Vergangenheit eines Menschen, der aber dann für die glückhafte Lebensphase eines jungen Menschen steht. Hanna bleibt im Roman wie im Film eine Person, von der sich der Leser und Zuseher nie abwenden kann. Neben der erfüllenden Sexualität, die sie dem Knaben schenkt, ist ihr in ihrer Scham, nicht einmal schreiben zu können, aber dann mit Intensität diese Mitteilungsform zu lernen, immer diese Rätselhaftigkeit, etwas Somnambules zu eigen, was unsere Sympathie für sie aufrecht hält! Ganz im Gegensatz zu den vier Mitangeklagten, die exakt dem Bild unserer Vorstellung von KZ-Wächterinnen entsprechen: gewöhnlich und ordinär.
Das Fiktionale der Geschichten, die Hanna so gerne hört, entspricht der Fiktionalität dieser Literatur und Filmgeschichte. Man kann trefflich über die unehrenhafte Vergangenheit Hannas diskutieren und wird doch immer wieder zum prägenden ersten Teil der Story, dem erotischen, zurückblenden. Diese Story wird von Schlink chronologisch erzählt, während sie Daldry in Rückblenden berichtet und damit neben der Arbeit an der Maske der im Verlauf um dreissig Jahre alternden Kate Winslet dem Werk ein paar filmische Eigenheiten abgewinnt.
Vielleicht wollten uns die Autoren aber vor allem sagen, welch eine Wirkkraft von der Literatur ausgehen kann, dass selbst finale Verbrechen an Menschen, wenn sie “naiv” begangen sein mögen, durch sie der Entschuldung möglich sind.