Um es gleich vorwegzunehmen: Der neue Film von Hayao Miyazaki, dem grossen Meister des japanischen Animationsfilms, ist ein Triumph, sowohl von seinem aussergewöhnlichen visuellen Stil her als auch von seiner überwältigenden Imaginationskraft. Eine angenehme, warmherzige und bewegende Geschichte, die ihren Vorgängern künstlerisch in nichts nachsteht, aber auch kommerziell ohne weiteres an die vorangegangenen Erfolge anknüpfen kann. Schon in Prinzessin Mononoke (1997), Spirited Away (2001) und Das Wandelnde Schloss (2004) hatte Miyazaki faszinierende Bilderwelten geschaffen, voller überbordender Einfälle und zahlreicher Interpretationsebenen. Auch hier gibt es wieder liebevoll beobachtete Details, anrührende Poesie und eine Leichtigkeit des Erzählens, wie sie so nur Miyazaki beherrscht. Mit ungezügelter Fabulierlust verknüpft er zwei unterschiedliche Welten und lässt seine Heldin, wie schon in Prinzessin Mononoke und Das Wandelnde Schloss, hin- und herwandern und so zur Mittlerin werden. Dabei ist die Romantik des Themas immer wieder Anlass für verführerische Schönheit, die sich aber nie selbst genügt, sondern immer im Dienst der Geschichte steht.
Diesmal hat der Regisseur Hans Christian Andersens Märchen «Die kleine Meerjungfrau» seiner eigenen Traumwelt anverwandelt. Er erzählt die Geschichte von Ponyo, einem kleinen Goldfisch mit Mädchengesicht. Ponyo lebt zusammen mit ihrem Vater Fujimoto, einem gutmütigen Meereszauberer, ihrer Mutter, der Seekönigin, und mehreren kleinen Schwestern in einem phantasievoll errichteten Meereshaus. Doch eines Tages verlässt Ponyo kurzentschlossen ihr sicheres Unterwasserheim. Auf dem Rücken einer Qualle gelangt sie an die Wasseroberfläche und wird, den Kopf versehentlich in einem Einmachglas gefangen, an den Strand gespült. Der fünfjährige Sosuke, der in der Nähe eines Dorfes auf einer hohen Klippe lebt, rettet Ponyo und verwahrt sie in einem grünen Plastikeimer. Sosuke freut sich sehr über seine neue Freundin. Denn: Sein Vater Koichi, vielbeschäftigter Kapitän eines Frachtschiffes, ist die meiste Zeit nicht zu Hause. Seine Mutter Lisa arbeitet tagsüber gleich in der Nähe in einem Altenheim. Der kleine Goldfisch beginnt sogar, zu sprechen und sich mehr und mehr in einen Menschen zu verwandeln.
In der Zwischenzeit sucht Fujimoto nach seiner Tochter. Mit seinen langen Haaren, der klobigen Nase und den dicken Tränensäcken ähnelt er einem verarmten Aristokraten. Mit magischen Kräften gebietet er über die Wellen, die – aus unzähligen Fischen geformt – wie lebendige Wesen erscheinen. So zwingt er Ponyo, in die Tiefen des Ozeans zurückzukehren. «Ich will aber ein Mensch sein!», erklärt Ponyo trotzig und flüchtet erneut. Nicht ohne zuvor das Lebenswasser, Fujimotos wertvollen Vorrat an magischem Elixir, in den Ozean geleert zu haben. Der Meeresspiegel beginnt daraufhin immer weiter zu steigen. Bis Sosukes Dorf schliesslich von einem Tsunami bedroht wird.
Ein kleines Mädchen, ein kleiner Junge, Freundschaft, Liebe, Unschuld – eigentlich eine einfache Geschichte, zumindest auf den ersten Blick. Einige Kollegen taten darum bei den Filmfestspielen von Venedig im letzten Jahr – Miyazaki war dort zum dritten Mal im Wettbewerb eines A-Festivals vertreten, was die künstlerische Bedeutung seiner Filme unterstreicht – Ponyo on The Cliff by The Sea als Kinderfilm ab. Das ist natürlich ein Missverständnis, zum einen, weil «Kinderfilm» an sich noch kein Werturteil ist, ob pejorativ oder nicht, zum anderen, weil die Abwehr, sich weiter mit dem Film beschäftigen und seine Geheimnisse entdecken zu wollen, zu offensichtlich ist. Denn Ponyo on The Cliff by The Sea ist reich an Themen und Deutungsmöglichkeiten. So lässt sich die Unterwasserwelt als Jenseits interpretieren, ein Thema, das auch schon bei Hans Christian Andersen vorhanden ist. Nicht von ungefähr arbeitet Ponyos Mutter in einem Altenheim, nicht von ungefähr bedroht ein Tsunami die Dorfbevölkerung. Die Nähe des Todes ist stets spürbar. Gleichzeitig ist die Unterwasserwelt mit ihren märchenhaften Wesen und urzeitlichen Monstern offensichtlich als Traumwelt beschrieben, die – ganz im Sinne Freuds – auf das Unbewusste verweist. Das erklärt auch die traumhafte Qualität von Ponyos und Sosukes Abenteuern, in denen alles möglich ist, sogar die Verwandlung in einen Menschen.
Grosse Sorgfalt hat Miyazaki auf die glaubwürdige Charakterisierung der einzelnen Figuren gelegt. Das gilt sowohl für die Erwachsenen, die mit ihren Alltagssorgen genau umrissen sind, als auch für die Kinder. Das Hauptaugenmerk gilt dabei der Beziehung zwischen Sosuke und Ponyo, die sich im Laufe des Films wandelt. Erst ist Sosuke noch der fürsorgliche Beschützer, doch dann wandelt sich Ponyo immer mehr zur gleichberechtigten Gefährtin. Lebendige Charaktere, die zur Identifikation einladen.
Ponyo on The Cliff by The Sea ist, entgegen dem Trend aus Hollywood, noch traditionell animiert. Doch das ändert nichts an der schieren Kreativität der Bilder, an ihrer Farbenpracht, Detailfreudigkeit und Lebendigkeit. Wie selbstverständlich verbindet Miyazaki das Realistische mit dem Phantastischen, vereint Fabelwesen und Menschen. Höhepunkt ist sicherlich, neben Ponyos Lauf über das Wasser, Lisas rasante Flucht im Auto die Serpentinen hinauf, jede Verkehrsregel missachtend, mit dem verschreckten Sosuke neben sich, während die Wellen unter ihnen zusammenschlagen und sie zu verschlingen drohen. Eine fürsorgliche Mutter, die sich als Verkehrsrowdy entpuppt – hier hat Miyazaki eine kleine ironische Spitze versteckt.