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Parasite

«Eine Komödie ohne Clowns und eine Tragödie ohne Bösewichte» – Bong Joon-hos Cannes-Siegerfilm bespielt die Klaviaturen mehrerer Genres und zieht nicht nur seinen Figuren, sondern auch uns gleich mehrmals den Boden unter den Füssen weg.

Text: Till Brockmann / 29. Juli 2019

Der Familie von Vater Ki-taek fehlt es nicht an praktischem Sinn: Wenn die Strasse vor ihrer Kellerwohnung gegen Insekten desinfiziert wird, lassen sie die ebenerdigen Fenster sperrangelweit offen. Zwar husten sie bald in den dichten Qualm, der sie umgibt, doch immerhin versprechen sie sich davon eine kostenlose Beseitigung des Ungeziefers, mit dem sie ihre vier heruntergekommenen Wände, irgendwo in einer unbestimmten südkoreanischen Stadt, teilen. Der schauerliche Zustand und die beengte Wohngeografie werden uns mit einem simplen erzählerischen Einfall gleich zu Anfang vor Augen geführt: Sohn Ki-woo sucht mit ausgestrecktem Arm jeden Winkel der modrigen Bleibe ab, um ein Paar Linien Wifi-Empfang zu ergattern, da ein blöder Nachbar sein offenes Netz kürzlich mit einem Passwort geschützt hat, sodass die Familie nun auch noch den digitalen Notstand erdulden muss.

Dennoch kommt kein Hauch von Verzweiflung auf. Keine Klagelieder sind zu vernehmen. Mit mal stoischer, mal sarkastischer Trotzigkeit, mit Frohmut, Improvisa­tionskunst und dem Falten von Kartonschachteln für einen Pizzalieferanten kommt man gemeinsam über die Runden. Hilfreich ist die Lebensmaxime des Vaters, der rät, man solle keine Pläne schmieden, denn wo kein Plan sei, könne auch nichts schiefgehen.

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Diese unbegründete und doch nicht ungesunde Gelassenheit wird bald belohnt: Ein Schulfreund verschafft Ki-woo ein Vorstellungsgespräch als Nachhilfelehrer für die Tochter einer reichen Familie. Mithilfe manierlicher Bravheit und einem von seiner Schwester Ki-jung gefälschten Diplom schafft es Ki-woo sofort, das Vertrauen der Familie Park und damit die Anstellung zu ergattern. Doch das ist erst der Anfang. Schon bald empfiehlt Ki-woo, für das künstlerisch begabte doch psychisch angeschlagene Söhnchen der Parks eine bekannte Kunstpädagogin zu beschäftigen: So findet unter falscher Identität auch Ki-jung eine gut bezahlte Anstellung. Mit hinterhältigen Tricks sorgen die Geschwister dafür, dass der Chauffeur und selbst die langjährige, grosses Vertrauen geniessende Haushälterin der Familie entlassen werden. An ihrer Stelle – wiederum mit geschummeltem Lebenslauf und unter falscher Identität – werden Vater Ki-taek und Mutter Chung-sook in den Haushalt der Parks aufgenommen.

Damit sind die dramaturgischen Karten aus- und offengelegt: Jeweils ein Quartett bestehend aus Vater, Mutter, Sohn und Tochter; eine reiche und eine arme Familie unter einem Dach, eine (vermeintlich) bestimmende und eine dienende. Regisseur Bong Joon-ho kann nun seine Vorliebe, Genres zu durchmischen, voll auskosten. Streckenweise bewegen wir uns auf dem Parkett der Komödie, in ernsteren Momenten blitzt schon fast die Sozialstudie auf, dann wieder, wenn die parasitäre Familie aufzufliegen droht, wird Parasite zum Thriller, der das Wissensgefälle zwischen Figuren und Zuschauer_in aufreibend zu nutzen weiss. So ist man hin- und hergerissen, mal lacht man laut, mal darf man sich entspannt zurücklehnen, um dann durch eine unerwartet exzessive Szene wieder aufgerüttelt zu werden.

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Während die anfangs beschriebene Kellerwohnung eher farbenfroh daherkommt und mit den Raum komprimierenden Objektiven längerer Brennweite gefilmt wurde, erstrahlt das Haus der Parks in der perspektivischen Weitwinkelästhetik, wie sie für die Architekturfotografie typisch ist. Die Parks leben in Räumen, die ebenso grosszügig bemessen wie geizig eingerichtet sind, mit jener elegant-trostlosen Schlichtheit, die sich für moderne Baukunst geziemt. Beton, Glas und Holz bestimmen die Farbpalette; in diesen Gemächern würde Ungeziefer an Sauberkeit verhungern.

Im Science-Fiction-Film Snowpiercer nutzte Bong die Horizontale eines futuristischen Zuges, um die gesellschaftliche Kluft zu verdeutlichen: Die Wohlhabenden reisten vorne, die ärmeren Schichten hinten. Parasite hingegen zelebriert die Vertikale: Die Wohnung der Bediensteten liegt nicht nur halb unter der Erde, sondern im Ort auch ganz unten. Von da muss man viele Treppen steigen, um zu den Parks zu gelangen. Im Keller ihrer Villa halten sich nur die Angestellten auf, und darunter befindet sich sogar noch ein zweiter Keller. Dazu gleich mehr.

Trotz aller visuellen Metaphorik und der auf den ersten Blick recht simplen Figurenkonstellation tischt Bong uns keine simple Gesellschaftsallegorie auf, in der sich eine ausbeuterische Schicht von Wohlhabenden und eine geknechtete von Mittellosen gegenüberstehen. Zwar ist Ki-taeks Familie, wohl dank den dauernden Anpassungsnöten im Überlebenskampf, um einiges gewiefter als die Parks, und Chung-sook hat teilweise recht mit ihrer Feststellung, reiche Leute seien naiv. Doch gleichermassen fehl am Platz wäre es, in Bongs Film die so gern postulierte Umkehrung der Machtstruktur zu erkennen, die in jedem Diener einen versteckten Meister sieht.

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Schon die Sympathieverteilung ist nicht so eindeutig, wie man vermuten könnte. Die Parks sind eigentlich ganz nette Leute, das finden sogar ihre Bediensteten. Zwar meint Herr Park einmal, er schätze an seinem Chauffeur, dass er freundlich und unmittelbar sei, doch nie «die Linie überquere», was für seine soziale Hochnäsigkeit spricht, dennoch behandeln er und seine Frau ihr Personal nicht besonders unfair oder gar unmenschlich. Andererseits sind Ki-taek und seine Familie nicht grade Vorkämpfer_innen des solidarischen Klassenbewusstseins. Egoistisch und gefühllos räumen sie die vorigen Angestellten aus dem Weg. Und als eines Nachts, in Abwesenheit der Parks, die ehemalige Haushälterin wieder auftaucht und offenbart, dass in einem geheimen Verliess unterhalb des Kellers noch ihr Mann wohne, den sie dringend mit Nahrungsmitteln versorgen müsse, entbrennt erst recht ein Kampf auf Leben und Tod – zuerst nur innerhalb der Unterschicht, am Schluss des Films, bei einem Gartenfest der Parks, auf allen Fronten.

Wenn Parasite in Cannes als erster koreanischer Film mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde, dann wohl auch, weil er ein originelles, komplexes, gewiss bizarr überdrehtes, doch in seiner Brüchigkeit allgemeingültiges Gesellschaftsbild entwirft. Bong Joon-ho ist gleichwohl nicht an einem moralischen Fingerzeig interessiert. Er selbst charakterisiert sein Werk als «eine Komödie ohne Clowns und eine Tragödie ohne Bösewichte». Alle Figuren sind auf ihre Weise gefangen und befangen, sei es von materiellen und psychischen Nöten, sei es von Erziehung und sozialem Druck, sei es von rauen tierischen Impulsen oder sublimen Lifestylevorgaben der Konsumgesellschaft. Offensichtlich erkämpft sich niemand seinen Weg ganz für sich allein, ohne andere zumindest ein bisschen auszunutzen. Jeder Mensch ist auf seine Weise ein Parasit.

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Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 5/2019 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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