Auf Lampedusa kommen und gehen Tourist:innen und geflüchtete Menschen. Ständig da sind hingegen die Inselbewohner:innen. Etwa der Bestatter Enrico Naso, Protagonist von Only Ghosts in the Waves. In einer fast meditativen Ruhe und Langsamkeit, begleitet von sphärischen, explorierenden Klängen, lässt der Film sein Publikum in Nasos Alltag und auf der Insel ankommen. Es sind Bilder von Lampedusa, die wir so noch nicht gesehen haben. Jedes einzelne der statischen Bilder im 4:3-Format könnte als Artprint verkauft werden – was den tragischen Fotos aus der sonstigen Berichterstattung diametral entgegensteht.
Die Ankunft und Unterbringung der geflüchteten Menschen werden von den Behörden verheimlicht und unsichtbar gemacht. Dem Filmteam war denn auch der Zugang zu ihnen untersagt. Aber die Bilder der kaputten Boote und zerrissenen Schwimmwesten, die bewaffneten Soldat*innen, die das Lager umstellen, und die Erzählungen der beiden Inselbewohner Enrico und Vito sprechen Bände und legen die katastrophalen Folgen der europäischen Migrationspolitik offen.
Wie halten es Menschen aus, täglich mit dem Tod an der EU-Aussengrenze konfrontiert zu sein? Enrico Naso, in dessen Garage sich die Särge stapeln, reflektiert über seine innere Zerrissen- und Getriebenheit. Er stellt sich immer wieder die letzten Momente, die Angst der Verstorbenen vor, will sie würdevoll und, wenn möglich, entsprechend ihrer Religion bestatten. Das ist keine leichte Aufgabe: «Es ist nicht Gott, der fünf Monate alte Kinder ertrinken lässt. Es ist der Mensch, der es nicht schafft, die Demokratie hochzuhalten. Oft stelle ich mir die Frage: Könnte Gott das nicht verhindern?»

© Visions du Réel/Hillton AG
Als Zuschauer:in lässt es einen nicht kalt, wenn dieser braungebrannte, stoische Mann solch essenzielle Fragen aufwirft. Wenn er in endloser Sisyphusarbeit Särge aufs Festland verschickt, weil der Friedhof von Lampedusa voll ist. Trotz allem gibt es im Film auch leichte Szenen, zum Beispiel, als Naso ungeschickt ausmisst, wie gross das Foto für einen Grabstein sein darf, und ihn seine Partnerin dafür scherzhaft rügt.
Spätestens der Epilog des Films erschüttert aber nachhaltig: Der Fischer Vito Fiorino erzählt vom dramatischen Bootsunglück 2013, bei dem er 47 Menschen das Leben rettete, während 368 ertranken. Und wie er seitdem nicht mehr zur See fahren kann, weil er in jeder Welle eine um Hilfe schreiende Seele wähnt. Daher auch der Titel, Geister in den Wellen. Gerne würde man den beiden Protagonisten noch länger zuhören.

© Visions du Réel/Hillton AG
Only Ghosts in the Waves ist der erste Film, den die beiden Regisseure gemeinsam realisiert haben. Alexander Tank drehte vorher vor allem Snowboard und Commercial-Filme; Tobias Scharnagl ist Reporter, dies ist sein Regiedebüt. Die beiden verbindet eine lange Freundschaft und das Bedürfnis, ungehörte Geschichten zu erzählen. Wie der Protagonist, so setzen auch die Filmemacher den Fokus auf die Menschlichkeit.
Durch die fein ausbalancierten dramaturgischen Bögen wird das Publikum stets dran erinnert, wie ähnlich wir Menschen uns sind. So dringen aus dem Auffangzentrum einmal Geräusche einer Fussballübertragung, und kurze Zeit später sieht Enrico Naso bei sich zu Hause eine Napoli-Partie an. Von der Erzählung Enricos einer Einsargung eines fünf Monate alten Mädchens wird direkt auf eine Messe in der Dorfkirche geschnitten, in der man die Liebe lampedusischer Eltern für ihre Kinder sieht und spürt. Der Film ist ein bildstarkes Zeitzeugnis und eine hochaktuelle Mahnung, dass wir niemals vergessen dürfen, uns für die Rechte und das Wohlergehen aller einzusetzen.
Junge Kritik
Diese Kritik entstand im Rahmen einer Zusammenarbeit mit der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) am Dokumentarfilmfestival Visions du Réel 2025 in Nyon.