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Prenom mathieu

Ondes de choc

Vier Fernsehfilme aus dem Welschland erzählen von der Not, wenn der Kopf zu explodieren droht.

Text: Martin Walder / 13. März 2018

Faits divers im unendlichen Strom unserer Katastrophenalltäglichkeiten: An einem Stichwort lassen sie sich festmachen, vielleicht noch an einer Datumzeile mit genauer Uhrzeit. Und manchmal haken sie sich über das individuelle Drama hinaus im kollektiven Bewusstsein für immer fest. Dann waren ihnen öffentliche Schockwellen, «ondes de choc», gewiss. Von solchen erzählen Lionel Baier, Jean-Stéphane Bron, Ursula Meier und Frédéric Mermoud.
Jede Epoche und Region kennt sie; in meiner Generation diesseits der Saane waren es zum Beispiel «Deubelbeiss & Schürmann». In der Romandie leben jüngere Erinnerungen weiter als «Le drame de l’A 1» oder «Le sadique de Romont», zum Beispiel. Vier Episoden haben die in der Produktionsgemeinschaft Bande à Part Films zusammengeschlossenen welschen Cineasten zu je einem stündigen Fernsehfilm in Koproduktion mit RTS und Arte inspiriert. Mit Fug verweist man in der Genfer Anstalt dabei auf die Tradition des legendären Groupe 5 der Tanner, Goretta, Soutter & Co., faktisch aber nicht ganz zu Recht, ist diesmal doch keine Kinoauswertung geplant.

Sirius

Vier unvergessene Geschichten also: Wie einer in den Achtzigerjahren einem europaweit tätigen Serien­mörder junger Männer entkommt und ihn penibel zu identifizieren hilft (Prénom: Mathieu von Baier). Wie 2010 ein flüchtiger Autodieb, Teenager aus der Lyoner Banlieue, von einem Waadtländer Polizisten in einem Autobahntunnel erschossen wird (La vallée von Bron). Wie 2009 ein Gymnasiast seine Eltern kaltblütig ermordet und die Woche davor in seinem der Lehrerin zugesandten Tagebuch protokolliert (Journal de ma tête von Meier). Und schliesslich die Rekonstruktion jenes kollektiven Mords und Selbstmords in den Bergen von Fribourg und Waadt, als sich 1994 die «Sonnentempler»-Sekte auf die Reise zu einer angeblich geistigen Existenz in ein anderes Planetensystem aufgemacht hat (Sirius von Mermoud). Zumindest dieses Drama hat seinerzeit das ganze Land aufgewühlt.

Vallee

Ganz unterschiedliche Sujets also. Die vier Filme spinnen sie weiter zu eigenen Dramen. Bei Mermoud etwa wird der beinah misslungene Ausbruchsversuch eines Bauernsohns aus dem Psychoterror der Sekte zum wichtigen Erzählstrang unter mehreren. Bron fokussiert nicht auf die umstrittene Polizistenkugel, die einen Autodieb das Leben kostete, sondern auf seinen Komplizen, dem er bis hoch hinauf in eine Skiarena folgt. Und Ursula Meier interessiert nicht allein der Elternmörder; sie entwickelt mit ihrem Szenaristen Antoine Jaccoud einen (etwas bemühten) Diskurs zur Interdependenz von Leben und Literatur bzw. Realität und Fiktion zwischen einem Schüler und seiner überforderten Lehrerin (mit einer enervierend raunenden Fanny Ardant).

Journal de ma tete 2

Unterschiedlich sind auch die filmischen Handschriften. Meier überzeugt dort, wo die harte Montage extremer Körperlichkeit in Nahaufnahmefragmenten Bresson’scher Tradition das Ringen auf Leben und Tod hautnah evoziert. Einer will sich, in die Obsessionen in seinem Kopf eingesperrt, den Schädel an der Wand zertrümmern, um die Hinrichtung seiner Eltern selber zu kapieren. Meiers junger Stammschauspieler Kacey Mottet Klein ist von furchterregender Präsenz, das Monströse und Hilflose verstörend in ein und denselben Blick gebannt. Auch der Blick des Vergewaltigungsopfers in Prénom: Mathieu verrät eine einzige, tiefe Blessur (Maxime Gorbatchevsky). Dagegen taucht Baier die Schweiz der Achtzigerjahre in warmer Kolorierung in eine Modellbaukasten-Putzigkeit, die, oft auch aus leichter Vogelschauperspektive gefilmt, ständig ins Surreale abgleitet. Familie, Nachbarschaft: ein Albtraum von Freaks des Normalen – vielleicht, dass dies noch konsequenter umzusetzen gewesen wäre?

In Sachen narrativer Plausibilität war ­Mermouds Sektendrama der wohl dramaturgisch heikelste Fall; doch nähert sich Sirius dem Chalet-Idyll, das eiskalten Psychoterror in spiritueller Verkleidung kaschiert, mit genau jener rituellen Langsamkeit und somnambulen Konsequenz, der man auch als Zuschauer_in nicht zu entrinnen vermag. Bron schliesslich erzählt am glattesten, oberflächlich betrachtet am konventionellsten. Doch täusche man sich nicht ob der linearen Verfolgungsdramaturgie, bei der unsere Sympathie im Übrigen sogleich dem jungen Mann mit dem einnehmenden Kindergesicht gilt. Wenn dieser Riyad (Ilies Kadri, von Beruf Gebirgsjäger in der französischen Armee) desorientiert zwischen abschüssigen Wäldern und eiskalten Bächen durch den Schnee keucht und hinter den Stämmen in Blickdistanz auf den Pistenspass der gleichaltrigen Snowborder trifft, ist es gespenstisch traurig.

Sirius 2

So wartet denn jeder der Filme mit einer eigenen, der Geschichte adäquaten Filmsprache auf. Gemeinsam ist ihnen dabei mehr, als ein erster Blick annehmen mag. Hinter den faits divers gewinnt schemenhaft ein familiäres Umfeld Konturen als Hort von Verletzungen, von Macht oder aber auch Sehnsucht: bei Bron das zärtliche Versprechen Riyads zu seiner kleinen Schwester, abends zurück und wieder bei ihr zu sein, bei Mermoud die manipulative Gewalt eines Guru-Paars (Dominique ­Reymond und Carlo Brandt) und ihrer «Familie», bei Baier und Meier die Macht von Müttern und die Schwäche von Vätern als trübe Spiegel jugendlicher Identitätssuche.

Journal de ma tete

Freilich hüten sich die Autor_innen, wohlfeile Erklärungsmuster zu liefern, verweigern sie gar tapfer. «Einander kennen? Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren», heisst es in Büchners «Danton», und man könnte sagen, die Gewalttätigkeit des berühmten Satzes stehe allen Filmen gleichsam Pate. In diesen Köpfen droht es zu explodieren, zu bersten; die Pein steht allen ins Gesicht geschrieben. Junge Männer erfahren sich in diesen Dramen ins Aus katapultiert, vordergründig als Täter bei Bron und Meier, als Opfer bei Baier und Mermoud – doch was heisst schon Opfer und Täter, wo die Realität aus den Fugen geraten ist und es bald einmal ums nackte Überleben geht. Auch und vielleicht gerade im fait divers verbirgt sich so viel Ungeheuerliches, Unbegreifliches.

Den vielleicht bewegendsten Augenblick des Leids hat Lionel Baier in der Schlusseinstellung seines Films gefunden, wenn Mathieu hinter der Einwegscheibe seinen Peiniger identifiziert hat, sich danach an dessen Position stellt und in den Spiegel die grosse Frage nach dem «Warum ich?» dem Ermittler – und uns – gleich zwei Mal an den Kopf wirft: «C’est quoi le problème avec moi, Monsieur?!»
Der Verdacht und das Entsetzen, dass man weder dem andern noch sich selbst entkomme, wäre wohl der schlimmstmögliche gemeinsame Nenner, in der diese Ondes de choc gründen.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2018 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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