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Nymphomaniac

Wenn die gequälte, sexsüchtige Joe (von Triers Muse Charlotte Gainsbourg) beim belesenen Seligman Busse tun will für eine nicht vollzogene Tat und in Rückblenden ihr sexuelles Erwachen und ihren Weg in die Abhängigkeit schildert, erhalten wir eigentlich Einblick darin, wie Lars von Trier mit Lars von Trier spricht. «Joe, c’est moi», könnte er Gustave Flauberts Identifikation mit seiner Romanfigur, der Ehebrecherin Emma Bovary, abwandeln.

Text: Flavia Giorgetta / 12. März 2014

Natürlich hat uns Lars von Trier wieder auf eine falsche Fährte gelockt. Wochen vor Filmstart sahen wir die Darsteller von Nymphomaniac auf Plakaten in sexueller Ekstase. An seiner berüchtigten Pressekonferenz 2011 in Cannes – die ihm wegen des missverstandenen Spruchs «Ich bin ein Nazi» offiziell das Label persona non grata eintrug – kündigte von Trier einen Porno an. Aber im epischen Zweiteiler Nymphomaniac dürfen wir kaum auf Sinnlichkeit hoffen, wie die Plakate suggerieren, noch werden wir ihm unter dem Aspekt der Pornografie gerecht. Von Triers Dogmafilm Idioterne war expliziter und in seiner Kombination von vorgetäuschter Beschränktheit mit Penetrationsszenen schockierender. Dass nun im Vorfeld die Medienmaschinerie geifernd über Nymphomaniac spekulierte, sagt viel über unsere prüde Zeit aus und mag Zuschauer in die Säle locken. Hoffen wir, dass es nicht die falschen sind. Von Trier beglückt uns nämlich anstatt mit Körperkino mit oft erstaunlich witzig in Szene gesetztem intellektuellem Stoff, unbequem und anstrengend und, ja, höchst befriedigend.

Wenn die gequälte, sexsüchtige Joe (von Triers Muse Charlotte Gainsbourg) beim belesenen Seligman Busse tun will für eine nicht vollzogene Tat und in Rückblenden ihr sexuelles Erwachen und ihren Weg in die Abhängigkeit schildert, erhalten wir eigentlich Einblick darin, wie Lars von Trier mit Lars von Trier spricht. «Joe, c’est moi», könnte er Gustave Flauberts Identifikation mit seiner Romanfigur, der Ehebrecherin Emma Bovary, abwandeln. Tatsächlich spiegelt sich von Triers Verhalten in Joe, die auf der Suche nach Erfüllung durch Sex Menschen immer wieder benutzt und dadurch in eine selbstverschuldete Einsamkeit schlittert. Wie Joe ihre Sexobjekte stösst von Trier Publikum und Kritik vor den Kopf und kokettiert doch mit beiden. Er geht sadomasochistisch mit der Öffentlichkeit und mit seiner Kunst, dem Film, um; er unterwirft sich Regeln wie im Dogma, nur um sie sogleich wieder zu brechen. Von Trier scheint sich nicht um Reaktionen zu scheren. Dann aber zieht er sich nach Aufschreien gekränkt zurück – und erscheint schliesslich wieder mit einem T-Shirt, das mit der Cannes-Palme und dem Schriftzug «persona non grata» bedruckt ist.

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Eine ebensolch komplexe Beziehung führt Joe mit ihren Mitmenschen: Sie manipuliert Männer und lotst sie dutzendweise aneinander vorbei, um zu ihrem benötigten Pensum Sex zu kommen. In einer grandiosen Szene will einer ihrer Geliebten Knall auf Fall bei ihr einziehen. Um ihn loszuwerden, hatte Joe gelogen: «Ich liebe dich zu sehr. Du verlässt deine Familie nicht.» Nun steht er da, Frau und Kinder auf den Fersen. Uma Thurman spielt die Verlassene umwerfend: zuerst vordergründig freundlich, dann passiv-aggressiv und schliesslich – endlich – voller Feindseligkeit. Hier bleibt uns das Lachen im Hals stecken und wir verstehen: Joe zerstört tatsächlich Leben, ohne wirklichen Gewinn zu erlangen. «The secret ingredient of sex is love», flüstert ihre Freundin ihr zu, um zu erklären, weshalb sie plötzlich der Polygamie abgeschwört habe. Kaum aber verliebt sich Joe (als junge Frau von Stacy Martin gespielt, der die abgründige Androgynität von Gainsbourg abgeht) in ihren einst so brutalen Entjungferer Jérôme, verliert sie ihre körperlichen Empfindungen. Eine Nymphomanin ohne Orgasmus? Wenn Jérôme ihr schliesslich die Erlaubnis gibt, mit anderen Männern zu schlafen, klingt von Triers religiöses Melodram Breaking the Waves an, wo Promiskuität den Untergang der Hauptfigur bedeutet – eins von vielen selbstreferentiellen Zitaten.

Durch Intertextualität verleiht der Autor uns Vergnügen, belehrt uns aber auch. Als Joe Seligman von ihrem auf wahnwitzige Art gescheiterten Dreier mit zwei schwarzen Männern erzählt und dabei das Wort «negro» benutzt, weist Seligman sie zurecht – nur um danach von Joe zu hören, wie heuchlerisch es sei, wenn man die Dinge nicht mehr beim Namen nennen kann. Da klingt natürlich Lars von Trier selbst an, der nach dem – tatsächlich ungeschickten – Einsatz des Wortes «Nazi» ein Schweigegelübde gegenüber Journalisten abgelegt hat.

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Wenn es die Kinoprogrammierung erlaubt, lohnt es sich, beide Teile unmittelbar nacheinander zu sehen. Im ersten Teil wirken die austauschbaren Sexeskapaden mit der Zeit ermüdend, was natürlich Joes Gemütszustand widerspiegelt. Ärgerlich können Seligmans pseudophilosophische Ausführungen sein, die Joe immer neue Stichworte liefern – vom Fliegenfischen über Johann Sebastian Bach zur Lust in der orthodoxen Kirche. Auch in diesem Geschwafel klingt von Trier selbst an. Im zweiten Teil massregelt Joe ihn: «Dies war deine bislang schwächste Abschweifung.» Sie spricht den Zuschauern aus den Herzen. Und nimmt damit den Kritikern den Wind aus den Segeln. Es wirkt, als beobachte man den Autor beim Drehbuchschreiben. Lars von Trier lässt hier durch beide Figuren zwei seiner Seiten ausleben. Dabei ändern sich aber auch Joe und Seligman. Gegen Ende spricht der Gelehrte ein feministisches Pamphlet, was bei diesem grossen Frauenregisseur nicht erstaunt. Doch danach zerstört von Trier diese utopische Einheit von Mann und Frau im Wort. In Einklang mit Leben und Werk dieses grossen Intellektuellen war das freilich zu erwarten: Die Menschen sabotieren sich stets selbst. Entlassen aus dem Kino – wo man die beiden Teile unbedingt sehen sollte, weil kein anderer Ort besser die nötige Konzentration ermöglicht – muss man unbedingt weitersinnieren: über Liebe und Leid, Feminismus und Unterwerfung, Schuld und Sühne.

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 2/2014 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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