FB Wenn der aktuelle Schweizer Film eine Person wäre und hier zur Tür hereinkäme, wie würde er oder sie aussehen?
NC Ich glaube, der Schweizer Film wäre eine reale Figur, weil dieses Jahr der Dokumentarfilm stark ist. Wir würden erkennen, dass es ein:e Schweizer:in ist, ein Schweizer Gesicht hat, aber vielleicht nicht eines, das wir erwarten. Nicht das von Heidi oder Willhelm Tell. Vielleicht würde die Person eine Mischung zwischen mehreren Sprachen sprechen, nicht nur die nationalen. Sie würde Narben tragen, die zeigen, dass die letzten Jahre nicht einfach waren.
FB Und wo geht er hin, dieser Schweizer Film? Sehen Sie in Ihrem dritten Leitungsjahr in Solothurn eine Tendenz?
NC Es gibt eine immer grössere Spaltung zwischen grossen Produktionen, die gut zu Geld kommen, und Filmen, die unterfinanziert sind. Regisseur:innen aus der Mittelschicht haben Schwierigkeiten, Filme zu finanzieren. Das spiegelt auch unsere Gesellschaft, in der die Mittelschicht es schwerer hat als auch schon. Ich sehe auch eine Tendenz, dass eine neue Generation Gewicht auf die politischen und philosophischen Ebenen legt. Sie will in der Gesellschaft eine Rolle spielen, sie spiegeln. Aber anders als in den Siebzigerjahren stellen diese Filmschaffenden eher Fragen, als dass sie Antworten geben. Die 68er-Bewegung wählte einen militanteren Weg: Ich erkläre dir, wie die Welt ist. Ich glaube, heute geht es mehr in Richtung: Die Welt ist komplex, ich zeige sie dir.
FB Drei Filme, die in die Richtung gehen, die Sie beschreiben, sind mir im Programm aufgefallen. Dom, Immortals und Il ragazzo della Drina. Das klingt alles sehr politisch, da fühlt man sich ja fast wie an der Berlinale.
NC Ja, das stimmt. Diese politische Suche ist ein Trend, das habe ich schon letztes Jahr gespürt, etwa mit Lisa Gehrigs Film Die Anhörung. Interessant sind diese Filme auch, weil sie eine Identitätssuche sind und versuchen, die eigenen Wurzeln zu verstehen. In Il ragazzo della Drina geht ein Mann 30 Jahre nach dem Krieg nach Srebrenica, wo er seinen Vater und seinen Onkel verloren hat, um dieses Trauma zu verarbeiten. Wenn Sie schauen, wer diese Filme gemacht hat, sind das alles Leute zwischen 30 und 45. Das heisst, es sind nicht mehr wirklich die Jungen, die die Welt entdecken, sondern Menschen, die Erfahrungen gesammelt haben und geschickt reflektieren.
«Regisseur:innen der Mittelschicht haben Schwierigkeiten, Filme zu finanzieren.»
FB Welche drei Filme aus dem diesjährigen Programm würden Sie allen ans Herz legen?
NC Als Erstes vielleicht Il ragazzo della Drina, den ich gerade erwähnt habe. Der ist mir geblieben, eine totale Überraschung. Diese Trauer zu sehen, ist sehr berührend. Nummer Zwei: Bagger Drama ist wirklich hervorragend und sehr lustig. Er erzählt von einer Familie mit einem Baggerunternehmen, die eine Tochter verliert. Es geht also um Trauer, aber auf eine sehr humorvolle Art. Der Film ist sehr schlau geschrieben, jede Figur hat ihre eigene Welt, ihre eigenen Bedürfnisse. Keine Figur ist nur Licht, keine nur Schatten. Und als Drittes würde ich Immortals von Maja Tschumi nennen. Man taucht hier in die Welt dieser Rebell:innen ein, in diese Aufstände in Bagdad. Der Film zeigt beispielhaft auf, wie heute eine neue Generation im Iran, in Georgien oder eben im Irak für Menschenrechte kämpfen muss. In diesem Film ist man unglaublich nahe dran an den Geschichten dieser Menschen.
FB Dieses Jahr finden die Filmtage zum 60. Mal statt. Was haben Sie sich für das Jubiläum ausgedacht?
NC Im Zentrum dieses Jubiläums steht die Landschaft des Juras. Das Programm ist eine gute Gelegenheit, nicht einfach unser Ego zu streicheln und zu zeigen, wie gut Solothurn in den letzten 60 Jahren war, sondern sich auf Filme zu konzentrieren. Das kommt sicher unerwartet, weil normalerweise Jubiläen die Gelegenheiten sind, Menschen zu zelebrieren. Wir legen den Fokus aber auf den Ort und zeigen: Auch das ist Kultur, auch das prägt unsere Geschichte.
FB Der Jura spielt als Drehort, als weiterer Protagonist sozusagen, eine Hauptrolle. Was hat Sie bei der Sichtung der Filme in der Reihe überrascht?
NC Vielleicht ist es die Atmosphäre dieser Landschaft. Wenn mich jemand im Ausland nach typischen Bildern fragen würde, würde ich die aus dem Jura-Programm nicht erwähnen. Das wären mehr die Alpen, Heidi oder Zürich, die grossen Städte.
Wenn man dann die Filme von Alain Tanner oder Lionel Baier schaut, sieht man, dass diese Landschaft etwas sehr Spezifisches bietet, etwas Dramatisches. Schon Aristoteles wusste, dass wir immer dieselben zehn Geschichten erzählen. Das heisst aber auch, dass es umso wichtiger ist, in welcher Landschaft ich eine Geschichte verorte.
«Ich sehe mich als Übersetzer zwischen Filmlandschaft und Publikum.»
FB Spechen wir noch etwas über Ihre bisherige Zeit als Festivalleiter. Sie haben die Direktion nach einer grossen äusseren Unruhe – der Pandemie – übernommen, aber auch eine grosse innere Unruhe geerbt. Sprach man von Solothurn, sprach man primär von den Unstimmigkeiten in der Organisation. Wie haben Sie es geschafft, dass man wieder über Inhalte spricht statt über die Leitung?
NC Also, erstens: nicht ich, sondern wir. Das Schiff wurde von Anderen durch den Sturm gebracht und diese Menschen verdienen den Applaus. Als ich angekommen bin, war die Pandemie schon durch. Ich habe hier ein funktionierendes Team vorgefunden und das grosse Bedürfnis, dass die Filme im Zentrum stehen. Ich bin selbst Regisseur und mich interessieren einfach die Filme und die Filmschaffenden. Das galt es für mich in Solothurn zu verteidigen, das ist die Seele des Festivals. Ich sehe mich und unser Team als Übersetzer:innen zwischen der Filmlandschaft und dem Publikum.
Etwas hat sich verändert mit der Pandemie: Früher ging man an Festivals, um Filme zu sehen, die man sonst nicht mehr zu sehen bekommt. Heute sind sie auch nach dem Kino breit verfügbar. Unsere Aufgabe ist es deshalb mehr denn je, Brücken zu bauen und Begegnungen zu ermöglichen. Bei uns schaut man nicht einfach einen Film und geht danach nach Hause, sondern man schaut sich einen anderen Film an, der mit dem ersten kommuniziert. Unsere Podiumsdiskussionen sind Treffen zwischen Generationen, bei denen die etablierten Regisseur:innen der Siebzigerjahre mit Filmschaffenden ins Gespräch kommen, die ganz neu im Geschäft sind. Da braucht es keine roten Teppiche, Absperrbänder oder Foto-Walls. Jahr um Jahr haben wir davon weniger gemacht und dieses Jahr gar nichts mehr. Es geht um die direkte Begegnung.
FB Das ist mit Schweizer Filmschaffenden sicher einfacher als mit Hollywood-Stars.
NC Ja, wir haben diese Einfachheit, ich muss nicht George Clooney einladen. Aber ich glaube, selbst George Clooney wäre froh, man könnte eine Diskussion über seinen Film organisieren, statt nur Selfies zu machen.
FB Sie sagen es selbst: Als Filmschaffender legen Sie Ihren Fokus als Festivalleiter vor allem auf die Filmschaffenden.
NC Ja, klar. Das ist meine Welt. Als Regisseur waren für mich immer jene Festivals interessant, die ein gutes Angebot für Filmschaffende haben. Es gibt Festivals, an die man eingeladen wird und wenn man dort ist, bekommt man das Gefühl, dass niemand wirklich den Film geschaut hat. Man macht fünf Minuten Q&A am Ende des Films und dann geht man nach Hause. In Solothurn organisierten wir letztes Jahr zum ersten Mal einen Mittagstisch, zu welchem alle Filmschaffenden eingeladen sind, um sich kennenzulernen. Ich würde sagen, um Ihre Frage zu beantworten: Ich habe versucht, das Beste von meinen Erfahrungen zu nehmen und hierher zu bringen.
«Ich kann Ihnen jetzt schon sagen, welche Filme ausverkauft sein werden.»
FB Die andere Seite ist das Publikum. Da sieht es etwas einseitig aus. Das Alter der Besucher:innen liegt zwischen 45 und 70, 86 Prozent kommen aus der Deutschschweiz. Wie schafft man es, Junge, Romands und Ticinesi nach Solothurn zu bringen?
NC Es braucht Zeit, und es kann sich nicht in einem Jahr ändern. Wir müssen Vertrauen in eine junge Generation von Filmschaffenden haben, dann werden wir eine Veränderung spüren. Mit den bekannten Gesichtern werden wir nie eine Erneuerung schaffen. Ich bin aber zum Beispiel total zufrieden und stolz, dass in den letzten Jahren die wichtigen Preise immer an Erstlingswerke gingen, Die Anhörung oder Until Branches Bend zum Beispiel. Wir müssen diesen Filmen eine gute Bühne geben. Das heisst auch, sie bei der Programmation prominent zu berücksichtigen. Das müssen bewusste Entscheidungen sein, denn ich kann Ihnen jetzt schon sagen, welche Filme ausverkauft sein werden. Unser Stammpublikum, eben 45–70, aus der Region Bern/Solothurn, kommt seit 40 Jahren hierher und weiss, was es will. Aber wenn wir auch die unerwarteten Filme geschickt programmieren, mit einer prominenten Nomination oder einem Gespräch in «Fare Cinema» zum Beispiel, gewöhnen wir die Leute langsam an eine neue Filmwelt.
Ein anderes Problem, das wir haben, sind die Preise. Hier einen Abend zu verbringen, bedeutet oft, zusätzlich zum Festivalticket ein Zugbillet und ein Hotel zu bezahlen. Das ist gerade für junge Leute ein Argument gegen einen Besuch. Deshalb versuchen wir zu sparen, wo es geht. Alles, was nicht nötig ist, streichen wir. So sind wir immer noch eines der günstigsten Festivals der Schweiz.
FB Fassen wir Ihre bisherige Zeit in Solothurn zusammen: Im ersten Jahr haben Sie noch beobachtet, im zweiten Jahr gab es schon viele Veränderungen, etwa den neuen Visioni-Preis, «So Pro» als konzentrierte Veranstaltungsschiene, die Gesprächsreihe «Fare Cinema». Was kommt im dritten Jahr?
NC In diesem Jahr wollen wir noch mehr Platz für den Austausch, für Netzwerkmomente schaffen. Wir werden mehr internationale Gäste einladen, vor allem Verleiher:innen oder Festivalorganisator:innen aus unseren Nachbarländern, und ihnen damit die Chance geben, Schweizer Filme früh zu sehen.
«Ich würde als Filmemacher viel mutiger sein und auf das Publikum vertrauen.»
FB Als eine Art Werbeplattform für den Schweizer Film?
NC Ja, wir spielen eine Rolle in diese Richtung. Wir sind alle da, wir machen diese Arbeit. Warum nicht? Wir haben es schon letztes Jahr gemacht, und das funktioniert.
FB Das neue Filmgesetz, die «Lex Netflix», ist seit Januar in Kraft. Merkt man davon schon etwas in dieser Ausgabe?
NC Nein, noch nicht. Ich glaube, wir werden die neuen Investitionen erst in zwei, drei Jahren merken. Aber wir haben bereits den Austausch mit den Streamingplattformen etabliert. Wir bieten einen geschlossenen Netzwerkanlass an, an dem sich Produktionsfirmen und Streamingplattformen austauschen können. Diese sind auch an den Pitchings präsent, die jedes Jahr stattfinden und an denen junge Regisseur:innen ihre Projekte präsentieren können.
FB Was haben Sie als Filmemacher von der Zeit in Solothurn gelernt?
NC Ich fühle mich darin bestätigt, dass es extrem schwierig ist, einen guten Film zu machen. Umso mehr bin ich mir bewusst, dass mein nächster Film nicht perfekt sein wird. Und ich habe gelernt, dass das Publikum viel schlauer ist, als ich dachte. Ich würde jetzt als Filmemacher viel mutiger sein und auf das Publikum vertrauen. Beim Schreiben denkt man oft, man müsse die Umstände erklären. Man muss seinen Bildern vertrauen. Als Letztes vielleicht, dass man für sein Thema brennen muss. Ansonsten geht man in der Flut der Filme unter.
FB 2021 haben Sie Ihren letzten Film veröffentlicht, Atlas, den Eröffnungsfilm der damaligen Filmtage. Wann wird es Sie wieder dahin ziehen, eigene Filme zu drehen?
NC Meine Arbeit am Festival empfinde ich als sehr kreativ. Ich habe im Moment nicht das Bedürfnis, zurück ins Filmen zu gehen. Aber irgendwann sicher. Es ist nicht etwas, das ich in meinem Leben abgeschlossen habe. Statt selbst zu drehen, verbringe ich nun in meiner Freizeit viel Zeit auf anderen Sets. Diesen Sommer etwa habe ich einige Tage auf einem Set Second Unit gemacht. Das hat viel Spass gemacht.
Niccolò Castelli wurde 1982 in Lugano geboren und wuchs im Tessin auf. Er studierte in Bologna und an der Zürcher Hochschule der Künste Film. Sein Film Tutti Giù wurde unter anderem in Locarno gezeigt. Sein Dokumentarfilm Atlas eröffnete 2021 die Solothurner Filmtage. Ein Jahr später übernahm er die Direktion des Festivals für den Schweizer Film von Vorgängerin Anita Hugi.