Eine Dampflokomotive durchzieht stampfend und rauchend die südenglische Landschaft. Darin die Interaktion eines älteren Herrn mit einem Knaben: Noch bevor der Knirps auch nur einen Muskel regt, ermahnt ihn der Alte, er solle nicht an die Fensterscheibe klopfen und eine Biene von selbiger verscheuchen. Der kleine Junge reagiert äusserst erstaunt. Wie nur konnte der Mann, den wir bereits als Ian McKellen in seiner Rolle als Sherlock Holmes erkennen, Künftiges voraussehen?
Die erste Szene in Mr. Holmes funktioniert als Vorbote in zweifacher Hinsicht. Zum einen wird den Bienen noch eine bedeutende Rolle zukommen, denn dieser Holmes vertreibt sich die stressfreien Tage seines Pensionistendaseins als Hobbyimker. Zum anderen werden Erwartungen an eine «typische» Sherlock-Holmes-Erzählung geschürt: Es sind der legendäre, brillante Verstand und die hervorragende Beobachtungsgabe des Meisterdetektivs, die ihn in dieser Szene Kommendes antizipieren lassen. Für Fans der Sherlock-Franchise sind diese Talente keine Überraschung, denn bereits in seinen ersten Holmes-Romanen versah Arthur Donan Coyle den fiktionalen Helden mit ebendiesen Eigenschaften, revolutionierte damit das literarische Krimi-Genre und machte Sherlock Holmes zum Vorbild aller Detektive.
Schon in den nächsten Filmminuten von Mr. Holmes zeigt sich aber, dass die britisch-amerikanische Koproduktion keine Variante des Immergleichen ist, denn der Film scheint stets zwischen Dekonstruktion und Wiederbelebung des Mythos «Sherlock Holmes» zu pendeln. In Mr. Holmes ist der Detektiv alt und müde geworden, lebt nicht mehr im belebten London, sondern in seinem selbst gewählten Exil im ruhigen Sussex. Sein scharfer Verstand paart sich nun mit einem lückenreichen Gedächtnis, denn die Demenz frisst dem alten Holmes die Erinnerungen weg. Und die berühmten Accessoires, Pfeife und Jagdkappe, entpuppen sich in dieser Filmwelt als Produkte der Legendenbildung: Holmes selbst habe sie nie getragen, vielmehr wurden sie ihm angedichtet, nachdem der Assistent Dr. Watson ihre Fälle als Prosa in die Welt hinaustrug.
In einer filmischen Rückblendenstruktur werden Sherlocks Erinnerungen an seinen letzten Fall lebendig. Die Vergangenheit kehrt allerdings nur stückweise und auch nur dank der tatkräftigen Hilfe des kleinen Roger, Sohn von Holmes’ Haushälterin, zum Meisterdetektiv zurück. Bald erkennt Holmes, dass sein letzter Fall zugleich das traumatische Ereignis war, das ihn damals in den Ruhestand trieb und ihn lehrte, dass Fakten und rationale Erklärungen nicht immer zu richtigen Schlussfolgerungen führen.
Hatte der Detektivzyklus bis anhin stets an Holmes emotionsfreien Methoden und forensischer Genauigkeit festgehalten, weicht dieser Film von der erprobten Formel ab: Er blickt hinter die Fassade des Meisters, um allzu Menschliches zu entdecken. Die Rivalität von Mythos und Variation spielt der Film konstant durch. Kenner des Sherlock-Kanons werden mit Verweisen auf ältere Storys belohnt, etwa wenn die legendäre Baker Street nach wie vor das Büro der Detektive beherbergt oder Holmes’ Bruder Mycroft erwähnt wird, der in einigen Geschichten Conan Doyles eine tragende Rolle spielt. Seiner öffentlichen Präsenz ist der Meisterdetektiv in Mr. Holmes aber leid geworden: Nur Kopfschütteln hat der Alte für die Verfilmung seiner Fälle übrig, die er sich in einem der selbstreflexiv angelegten Momente im Kino anschaut. In solchen Szenen vergisst man beinahe, dass Sherlock Holmes doch immer nur das war, was er in diesem Film derart unausstehlich findet: eine fiktionale Figur, ein medialer Mythos, ein Lichtflimmern auf der Leinwand. Mr. Holmes wirkt hingegen wie die verfilmte Realbiografie eines Mannes, dessen mediales Abbild ihn bis anhin zur Unkenntlichkeit verzerrt hatte.
Ob diese neue Ernsthaftigkeit und der demystifizierende Realismus nun eine verdiente Pause vom frivolen Unernst postmoderner Produktionen ist oder ob man die klassische Detektivstory doch allzu sehr vermisst, für die der Name «Holmes» über hundert Jahre lang gebürgt hatte, bleibt Geschmackssache. Die Fans traditionellerer Kriminalgeschichten werden sich aber zumindest von den sorgfältig komponierten Filmbildern und dem meisterlichen Schauspiel Ian McKellens trösten lassen.