Filmbulletin Print Logo
Two weeks 2

Mit offener Hand

Verabreicht wird sie aus den unterschiedlichsten Gründen, viel wichtiger ist aber, was auf sie folgt. Die Ohrfeige ist ein selten thematisiertes, aber faszinierendes Objekt des Kinos.

Text: Gerhard Midding / 27. Okt. 2019

Da er ein diskreter Mensch war, ist wenig bekannt, dass Claude Sautet neben seiner Karriere als Regisseur noch ein geheimes Leben als Skriptdoktor für befreundete Filmemacher führte. Louis Malle, Philippe de Broca, Jean-Paul Rappeneau und andere schätzten sein natürliches Verständnis für Drehbuchprobleme. Wenn sie mit einer Szene nicht weiterkamen, hatte er meist eine Lösung parat. Er wusste genau, welchen dramaturgischen Impuls sie brauchten. Nichts schien ihm besser geeignet als eine Ohrfeige, um eine Situation aus ihrer Erstarrung zu lösen und ihr frischen Elan zu geben. Sie ist ein Überraschungsmoment, das die Getroffenen aus der Fassung und eine Szene aus ihrem bisherigen Gleichgewicht bringt. Gelegentlich braucht sie den Nachdruck der Wiederholung, aber unweigerlich markiert sie einen Wendepunkt. Sie mag brüsk erscheinen, doch flüchtig ist ihre Wirkung nicht. Die Machtverhältnisse müssen nach dieser Provokation neu ausgehandelt werden. Die Ohrfeige klärt, was in der Luft liegt, aber noch nicht die Situation. Da man selten von ihr ohnmächtig wird, stellt sie eine Aufforderung dar, umgehend zu reagieren. Sie ist, dramaturgisch gesehen, ein unwiderstehlicher Ansporn.

Da Sautet ein verschwiegener Koautor war, werden wir wahrscheinlich nie erfahren, welchen Szenen er auf diese Weise eine neue Dynamik verlieh. In seinen eigenen Regiearbeiten mangelt es nicht an Ohrfeigen. Zwar hatte der Hauptdarsteller seiner frühen Gangsterfilme, Lino Ventura, bemerkenswerte Hemmungen, Frauen zu schlagen. Aber in Sautets späteren Gesellschaftsmelodramen tritt sie mehrfach auf den Plan: Der blutige Frauenhasser Michel Piccoli ohrfeigt seine Frau Marie Dubois in Vincent, François, Paul … et les autres und der Macho Claude Brasseur ohrfeigt in Une histoire simple einmal Romy Schneider. Das sind hervorgehobene, stets zwiespältige Momente, in denen Verachtung oder Wut zutage treten. In seinem vorletzten Film Un cœur en hiver jedoch wird die Ohrfeige zu einer ebenso emotionalen wie moralischen Geste, in der sich nicht nur Wut, sondern Empörung ausdrückt. Als Emmanuelle Béart sie Daniel Auteuil vor dem Publikum ihres Stammbistros gibt, stellt sie damit seine emotionale Feigheit vor aller Welt bloss. Sie erteilt ihm die Quittung dafür, wie kaltblütig er mit ihren Gefühlen gespielt hat. Keine Ohrfeige bei Sautet sitzt so sehr wie diese. In der Regel ist es ohnehin interessanter, wenn eine Frau sie austeilt.[...]

Den ganzen Essay können Sie in der Printausgabe von Filmbulletin lesen: Ausgabe 7/2019 bestellen

Enamorada 1

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 7/2019 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

Weitere Empfehlungen

Essay

29. Sep. 2015

Die Schweizer Berge zwischen Sehnsucht und Idylle

«Heidi» ist eine Schweizer Geschichte, der in Japan in Form einer äusserst erfolgreichen Zeichentrickfilmserie neues Leben eingehaucht wurde. Die Serie wurde auch fürs deutsche Fernsehen adaptiert bzw. synchronisiert. Wie sich die kulturellen Unterschiede auf die Tonspur auswirkten, hat Oswald Iten untersucht und die Zeichentrickfassung Arupusu no shôjo Haiji (1974) von Isao Takahata, mit der Musik von Takeo Watanabe und Eriko Kishida, mit der deutschen Bearbeitung von Andrea Wagner und Gert Wilden verglichen. Die Analyse enthält Videobespiele.

Essay

18. Jan. 2017

Die Kunst der Ausstrahlung

Die reziproke Beziehung zwischen der bildenden Kunst und dem Film ist facettenreich und komplex. Die Leidenschaft von Kuünstlerinnen und Kuünstlern ist ein beliebtes Sujets von Biopics und Dokumentarfilmen. Nur zu gerne malen auch Kameraleute mit Licht, als wäre ihr Apparat ein Pinsel. Umgekehrt denkt die Gegenwartskunst erkenntnisreich über die bewegten Bilder nach. (nur im Print)

Essay

09. Sep. 2021

9/11 und die neue alte Frontier

Gerade der Western diente dem US-Kino nach den Terrorattacken auf das World Trade Center als Ort der Neuverhandlung der amerikanischen Identität. Im Grenzgebiet der Moral erfahren die ursprünglichen amerikanischen Werte eine Umdeutung.