Der Guru als Weltgeist und die Vielen, die seine Zuwendung suchen: was in der grossen Politik und in der Religion funktioniert, das können wir auch in kleinen Gruppen beobachten, dort noch auffälliger, weil die Abhängigkeiten meist sichtbar individueller ausfallen. Diktatorische Staaten wie Nordkorea bieten anschauliche Beispiele der Manipulation von Menschen zugunsten eines einzigen Führers. Scientology ist zu einem Dauerthema geworden. Ein zeitnahes Beispiel einer überschaubaren geschlossenen Gruppe in unseren Breitengraden war die Aktionsanalytische Organisation (AAO) des Undergroundfilmers und Malers Otto Muehl in den siebziger Jahren, der sich nicht nur Frauen gefügig machte, auch keinen Halt vor Kindern kannte. Es wäre ein weites Feld von Beispielen aufzuzeigen, in denen das Führerprinzip Unterwerfung propagiert, der selbst Menschen zuneigen, deren Intelligenz mehr Eigenständigkeit vermuten lässt.
Sean Durkin ist ein Newcomer in der Spielfilmregie. Nach seinem 2010 in Cannes ausgezeichneten Kurzfilm Mary Last Seen und Erfahrungen in der Produktion erhielt er mit diesem seinem ersten Langfilm beim Sundance Festival 2011 den Regiepreis. Mit dem Kameramann Jody Lee Lipes hat er versucht, in langen statischen Nahaufnahmen, in Totalen und langsamen Zooms das Schicksal einer jungen Frau deutlich werden zu lassen, die in die Fänge eines dieser heuchlerischen Menschenbeglücker gerät.
Wir sehen diese Frau in Eile ein Farmhaus verlassen, um im nahen Wald zu verschwinden und sich vor den Häschern, die ihr nacheilen, zu verstecken. Martha – mit ihr haben wir es zu tun – kann ein Telefon ausfindig machen, um ihre ältere Schwester zu benachrichtigen, und die wird sie nach langem Hin und Her aus dieser ländlichen Gegend im Bundesstaat New York abholen. Lucy lebt drei Autostunden entfernt in einem geräumigen Haus am See, ist mit Ted, einem britischen Architekten, verheiratet. Ihr Verhältnis zu Martha ist zärtlich, aber auch distanziert. Jedenfalls kümmern sich beide um Martha, deren Zustand besorgniserregend ist. Die Gründe dafür können Lucy und Ted nicht in Erfahrung bringen, aber wir Zuseher werden mit abrupt einsetzenden Rückblenden, die uns fast aus dem Verständnis der Geschichte werfen, informiert, was mit Martha geschehen ist.
Ihre Vorgeschichte bleibt im Dunkeln. Ausser von ihrem gespaltenen Verhältnis zu ihrer Schwester erfahren wir nichts. Was hat sie in die sektiererische Gruppe getrieben, die von dem sich charismatisch gebenden Patrick bestimmt wird? Kaum Männer, aber einige Frauen haben dort ihre (falsche) Heimat gefunden. Den Frauen wird schon beim gemeinsamen Essen ihre dienende Rolle deutlich gemacht. Klar, dass der Anführer das ius primae noctis in der Gruppe für sich beansprucht, das er dann mit unerbittlicher Geilheit zu seiner Befriedigung exekutiert. Ihm scheint das die Existenz dieser Sekte zu rechtfertigen. Und dann wendet er sich mit zärtlichen Liedern, zur Gitarre gesungen, an seine Lieblingsfrauen, ermahnt sie mit Moral und Gesichtskosmetik zur gesunden Lebensführung. Ansonsten sind die Frauen noch dazu da, mit dem Verkauf ihrer handwerklichen Erzeugnisse zum Unterhalt der gehirnlahmen Gemeinschaft beizutragen. Martha erlebt diesen Patrick auch als beschützendes Element. Vielleicht ist dieser Verführer und egoistische Machtmensch auch auf der Suche nach dem Sinn seines Lebens, was ein geheimes Einverständnis mit den Abhängigen erzeugen könnte? In dieser Suche scheint auch in Marthas früherem Leben das Manko der Unselbständigkeit aufzufinden sein.
Ist kein Geld mehr vorhanden, müssen die Gruppenmitglieder umliegende Häuser abwesender Bewohner nach Wertsachen durchsuchen. Dabei kommt es zu einem Überfall auf einen plötzlich auftauchenden Besitzer. Dieser Vorfall, die Aggression gegen einen Menschen, der sein Recht vertrat, beschäftigt Martha auf eine Weise, dass sie ihre Flucht beschliesst.
Martha – Marcy May war ihr Name in der Sekte, mit Marlene meldeten sich alle Frauen der Gruppe am Telefon – sucht nun bei Lucy Zuneigung. Dass auch deren konforme Welt ihre einschränkenden Normen besitzt, muss sie erfahren, als sie im anliegenden See nackt badet und Lucy sie scharf zurechtweist, die Nachbarn würden das nicht goutieren.
Martha erlebt bei ihrer Schwester trotz aller Geborgenheit eine Realität, die sie kaum einschätzen kann. Sean Durkin versucht, das dramaturgisch überzeugend zu vermitteln, wenn er von Marthas Gegenwart immer wieder in ihre Erinnerung an die Verhältnisse in der Sekte schneidet. Das ist die filmische Möglichkeit, ja der Trick, Elizabeth Olsen die Geschichte spannungsvoll spielen zu lassen, weil Marthas Konfusion und Unsicherheit ständig virulent bleiben, ihren gegenwärtigen Zustand zum Mittelpunkt der Geschichte machen.
Durkin hat zudem einen beeindruckenden Schauspielerfilm mit Olsen, aber auch mit Sarah Paulson und John Hawkes gestaltet, wobei er die emotionalen Höhepunkte mit dissonanten minimalistischen Sound- und Musikelementen besonders auffällig, oft zu übersteigert untermalt. Durkin meint, er habe die Tonfassung schon beim Drehbuchschreiben im Ohr gehabt.
Der heute dreissigjährige Regisseur, dessen Film ein offenes Ende hat, beurteilt sein Anliegen so: «I was attracted to the world of cults and how it dealt with family and people’s different personaes. This was an extreme example of that. I knew I wanted to do something that was modern and I knew it was something I hadn’t seen: a contemporary cult movie that was naturalistic.»