Soll ein Haus ein ganzes Leben lang halten, fragt einer der Schüler. Ja, erwidert Jean, so lange soll es Bestand haben. Dafür braucht es einen festen Sockel, ein verlässliches Fundament. Der Maurer ist kein geschwätziger Mann, aber es bereitet ihm Freude, über sein Handwerk zu sprechen. Er hat es von seinem Vater übernommen, es gefällt ihm, dass jeder Auftrag ihn vor neue Aufgaben stellt. Er mag es auch, dass er auf diese Weise ein wenig am Leben der Menschen teilhaben kann, die später dort einziehen werden. Darüber zu sprechen, wie fragil diese Leben in dauerhaften Mauern sein können, kommt ihm nicht in den Sinn.
Die Vertretungslehrerin seines Sohnes, Mademoiselle Chambon, hat ihn in die Klasse eingeladen. An jedem Samstag spricht einer der Eltern über seinen Beruf. Die Schüler machen lebhaft mit, stellen wissbegierig Fragen, auf die er ihnen nie eine Antwort schuldig bleibt. Jeans Sohn hört mit verlegenem Stolz zu. Auch die Lehrerin lauscht aufmerksam seinen Worten. Das Selbstverständnis dieses Mannes berührt sie. Wie tief, das entdeckt uns eine langsame Kamerafahrt an sie heran. Unverhofft ist sie in den Bann dieses bescheidenen Mannes geraten, der seine Rolle zuverlässig erfüllt. Nach partir von Catherine Corsini werden in diesem Jahr zum zweiten Mal in einem französischen Film Bauarbeiten zu einem Liebesstifter, weil sie die Begegnung der Klassen ermöglichen.
Stéphane Brizé geniert die Symbolik dieser Szene nicht. Seine Darsteller tragen leicht an deren Last. Der Regisseur stattet den Moment mit vielfachen erzählerischen Zuständigkeiten aus, namentlich dem Widerspruch zwischen vorläufigen und endgültigen Gefühlen. Aber vor allem erlaubt er es ihm, sich behutsam seinen Charakteren zu nähern. Wie in seinen früheren Filmen definiert er sie zunächst einmal durch ihren Beruf (in Le bleu des villes und Je ne suis pas là pour être aimé waren es solche, denen der Normalbürger mit verschämter Ablehnung begegnet: eine Politesse und ein Gerichtsvollzieher). In der ersten Einstellung trägt Jean eine Wand mit einem Pressluftbohrer ab. Seine Frau Anne-Marie ist zum ersten Mal in der Druckerei zu sehen, in der sie arbeitet, und ihr gemeinsamer Sohn Jérémy, wie er sich mit Hausaufgaben plagt. Auch Mademoiselle Chambon wird an ihrem Arbeitsplatz eingeführt, allerdings mit einer bezeichnenden Abweichung: Während sie darauf wartet, dass Jérémy von seinem Vater abgeholt wird, spielt sie auf einer imaginären Violine. Als Jean sie dabei betrachtet, entdeckt er etwas, das über seine alltägliche Existenz hinausweist.
Gesten haben in diesem Film Vorrang vor den Worten. Sie sind präzise und beredt, während sich in den Dialogen zumeist Verlegenheit artikuliert. Die Liebe entscheidet sich wortlos. Was Jean und Mademoiselle Chambon aneinander fasziniert, können sie nicht ohne weiteres benennen. Sie werden von dem angezogen, was der jeweils andere für sie verkörpert, von einem Inbild des Fernen, Unerreichbaren, das sich komplementär zu ihrer Existenz verhält. Sie bleiben füreinander ein Rätsel, obwohl der Film ihre unterschiedliche soziale Herkunft nie als ein Hindernis für die Liebe wahrnimmt. Diese ist, anders als in Partir, keine tyrannische Anziehung, die keinen Aufschub duldet, sondern ein Gefühl, das sich im Zögern erfüllt, in scheuen Blickwechseln, in tastenden Versuchen, das richtige Wort zu finden. In ihrer ersten Zärtlichkeit offenbart sich kein unbezähmbares Begehren, sondern die Sehnsucht nach Geborgenheit. Zum Dank dafür, dass Jean in ihrer Wohnung ein neues Fenster eingebaut hat, erfüllt sie seinen Wunsch, an ihrer Liebe zur Musik teilzuhaben. Als ihre Lieblingsaufnahme von Franz von Vecseys «Valse triste» ausklingt, ergreift er ihre Hand und führt sie nach einer Pause an seine Wange. Sie sind eingeschüchtert von ihrer plötzlichen Nähe.
Jean hat allen Grund zu zaudern. Seine Ehe mit der warmherzigen, klugen Anne-Marie ist ein gewöhnliches, aber kostbares Glück. Er ist ein guter Ehemann, Vater, Sohn und Arbeitnehmer; nicht allein, weil dies von ihm erwartet wird, sondern weil es seiner Natur entspricht. Pflicht und Neigung waren bis zu der Begegnung mit der Lehrerin kein Widerspruch in seiner Existenz. Cholerisch wird er erst, als ihm die Dinge über den Kopf wachsen, als die widerstrebenden Forderungen seines Herzens seine gefestigt geglaubte Identität infrage stellen. Denn Mademoiselle Chambon ist ebenso sehr seiner Liebe würdig. Sie entspricht nicht dem Typ der alleinstehenden Lehrerin, wie Annie Girardot oder Maggie Smith sie in früheren Kinoepochen verkörperten. Sie ist tolerant, hat ihr Leben sehenden Auges so eingerichtet, wie es ist. Als Vertreterin bleibt sie stets nur ein Jahr an einem Ort. Ihre Sanftheit wirkt streng und entrückt, aber depressiv ist sie nicht. Ihre Tränen führen keine Klage gegen das Schicksal, sondern verraten eine wehmütige Vertrautheit damit, die ihr Würde verleiht.
Originalität ist nicht die grösste Sorge Brizés. Sein erzählerisches Temperament entfaltet sich in der Nuance, der Variation. Seine Schauspielerführung vertraut umsichtig auf die Wahrheit, die auch in allzu oft erzählten Konflikten ruht. François Truffaut hätte als junger Kritiker gewiss beklagt, dieser Film sei viel zu britisch, zu vorsichtig wie David Leans Brief encounter. Brizé verfügt jedoch über eine an Claude Sautet gemahnende Geduld mit der Unbestimmtheit der Gefühle. Seine Zurückhaltung will den Dingen des Lebens ihr angemessenes Gewicht verleihen, ohne ein moralisches Urteil zu fällen. Antoine Héberlés Kamera ist ein mitfühlender Komplize. So sorgsam, wie die Heranfahrt in der Schulszene ihr Zeit gibt, ihre Gefühle zu erkennen, so diskret gleitet die Kamera später über den Körper der schlafenden Lehrerin, die Jean nicht wecken will, obwohl er seine Arbeit beendet hat. Der Blick durch den Türspalt verharrt keusch auf dieser friedlichen Szenerie. Ein Gegenschnitt auf Jeans Reaktion ist nicht nötig. Es ist so, als würde dieser Schwenk seinen Gedanken folgen, die sich von einer Ahnung zu einer Erkenntnis wandeln.