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COURGETTE Brücke
© Filmingo

Weise Waisen: Ma vie de Courgette

Seit seinem Start in Cannes hat der Film einen einzigartigen Siegeszug durch die Festivals und Kinos dieser Welt angetreten, wird zu Recht von Preisen überhäuft und ist bereits zum erfolgreichsten Schweizer Animationsfilm aller Zeit avanciert.

Text: Doris Senn / 14. Feb. 2017
  • Regie

    Claude Barras

  • Buch

    Céline Sciamma, Claude Barras, Morgan Navarro, Germano Zullo

  • Vorlage

    Gilles Paris

  • Kamera

    David Toutevoix

  • Musik

    Sophie Hunger

Was für eine herzerwärmende Geschichte! Dabei beginnt die Sache erst mal abgrundtief traurig: mit dem neunjährigen Icare im Mittelpunkt, der allein im Estrich mit den Bierdosen spielt, die seine Mutter vorgängig geleert hat. Icares Vater hat sich mit einer anderen Frau davongemacht. «Mit einem Huhn», wie seine Mutter giftig anmerkt, was Icare wörtlich nimmt – und nicht versteht, wie so vieles andere: etwa dass seine Mutter sich vor allem dem Alkohol und dem Fernseher widmet, und wenn sie sich denn an ihren Sprössling erinnert, diesen traktiert und ihm immer mal wieder eins überzieht. Grundlos. Für Icare ist das Alltag. Bis die Mutter an jenem schicksalhaften Tag die Treppe runterfällt, und Icare im Waisenhaus landet.

Dort trifft Icare, der lieber Courgette heisst und rote Ohren, einen blauen Schopf und überaus traurige Augen hat, auf ein kunterbuntes Trüppchen, das ihn bald in seine liebenswerte Runde aufnimmt. Allesamt haben die Erwachsenen den dort gestrandeten Kleinen den Start ins Leben so richtig schwer gemacht, allesamt sind sie im Innersten versehrt – wie Courgette. Sei es nun der «Chef» Simon, der gefrässige Jujube, der sogar seine Zahnpasta isst, «weil das gesund ist», Alice, die ihre äusseren Narben hinter ihrer Mähne versteckt, der blauäugige Ahmed oder auch Béatrice, die sehnlichst ihre Mutter erwartet. In der Zwischenzeit bieten sich die Kids untereinander jenen Halt und jene Anteilnahme, die sie brauchen, um neu im Leben Fuss zu fassen.

Courgette bus

© Praesens

Der hinreissende Animationsfilm Ma vie de Courgette ist das Langfilmdebüt des Westschweizers Claude ­Barras und basiert auf dem fast gleichnamigen Erfolgs­roman von Gilles Paris. Mit knappen, pointensicheren Dialogen erzählt Paris darin aus der Perspektive eines kleinen Jungen dessen Erlebnisse, seine Abenteuer im Waisenhaus, seine Sicht auf die Welt.

Céline Sciamma, die französische Regisseurin, die mit einfühlsamen Coming-of-Age-Dramen viel Furore machte (Tomboy, Bande de filles), hat das Buch um die eine oder andere Episode verkürzt und das Figurenarsenal etwas verkleinert. Damit schuf sie für Claude Barras die passende Vorlage für seine Plastilinpuppenanimation. Ohne viele Special Effects und aufwendiges Drumrum besticht der Film nicht zuletzt durch seine liebevoll inszenierten Figuren. Diese klingen an Barras’ frühere Werke an, in denen er ebenfalls Animationsfilme für Kinder (und Erwachsene) machte – so etwa Banquise, Le génie de la boîte de raviolis oder der gruslige Vampirfilm Au pays des têtes. Alle leben sie von einem ebenso feinen wie bösen Humor und von einer Kinderwelt, die alles andere als heil ist.

Courgette jujube simon

© Praesens

Allesamt leben Barras’ Kreationen aber auch von einer detailsorgfältigen Animation. Der Film wurde als Stop-Motion-Animation gedreht – und dies mit Experten des Fachs, die schon mit Tim Burton, Nick Park oder Wes Anderson gearbeitet hatten. In Ma vie de Courgette sind die Figuren so konstruiert, dass die Köpfe der Puppen tennisballgross sind, was den Machern erlaubte, Augen, Mund, Augenbrauen oder Haare mit blossen Fingern zu verändern. Dies wiederum vereinfachte zum einen das Handling enorm und ermöglichte zum andern entsprechend viele feine Nuancen. Dies aber verlangsamte auch erheblich die vorgesehene Zeit des Drehs: Rechnete die ambitiöse Genfer Produktionsfirma Rita Productions zu Beginn mit vier bis fünf Sekunden pro Tag und Animateur, waren es in der Realität dann nur knapp drei Sekunden, was die Suche nach Koproduktionspartnern notwendig machte.

Der Produktionsprozess für den 66-­minütigen Film umfasste schliesslich ganze zwei Jahre – mit einem rund 40-köpfigen Team, dem auch die Musikerin Sophie Hunger angehörte, welche die Originalmusik für den Film beisteuerte.

Courgette camille

© Praesens

Entstanden ist ein überaus anrührendes poetisches und humorvolles Werk, das uns in eine Kinderwelt eintauchen lässt, die weder verklärt noch verteufelt wird, in der – trotz einiger überforderter oder mit Kalkül agierender Erwachsener – die Kleinen zu überleben suchen und in der sie trotz den herben Aversitäten und ohne Arg die Geschehnisse für sich im Guten zu ordnen suchen.

Ma vie de Courgette ist ein Film über die Freundschaft, über die Liebe und darüber, dass man das Vertrauen in die Welt und die anderen nie verlieren soll. Das funktioniert auch für Erwachsene.

 

Dieser Artikel ist in der Printausgabe Nr. 1/2017 erschienen. Stöbern Sie in unserem Ausgabenarchiv.

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