Eine unspektakuläre Szene eröffnet den neusten Dokumentarfilm von Luc Schaedler: Der chinesische Künstler Gao Zhen steht auf einem Industriegebäude und fotografiert mit seinem Smartphone die ganz gewöhnliche Dacharchitektur. Dahinter erstreckt sich die weite Stadt – und ein blauer Himmel. Der Himmel, so bemerkt er, sei sonst fast immer mit Smog gefüllt, der die Sicht behindere und vor allem die Atemorgane, also das Leben an sich, angreife. Die unerwartete freie Sicht ist ein Lichtblick, der zugleich deutlich macht, dass in der Volksrepublik China vieles nicht alltäglich ist, was wir im Westen für selbstverständlich halten. So subtil er beginnt, so setzt sich A Long Way Home auch fort: Betont unaufgeregt erzählt er von den erschütternden Auswirkungen eines totalitären System auf Leib und Seele der Einzelnen.
Luc Schaedler spricht mit Kunstschaffenden über ihre persönlichen Geschichten, die aufs Engste mit der Geschichte Chinas verschränkt sind – ohne jedoch die historische Dimension detailliert auszubreiten, auch wenn die Ereignisse auf dem Tiananmenplatz
von 1989 das Zentrum des Films bilden. Das Leid, die Repression ganzer Generationen brennen sich in den Körper des Individuums ein, sagt die Choreografin und Tänzerin Wen Hui. Bei ihr manifestiert sich das künstlerische Schaffen mit dem Körper und das Verarbeiten dessen, was im Körper gespeichert bleibt, am deutlichsten. Vor Schmerz, Schuld und Scham winden sich in ihren Choreografien die Tänzerinnen vor einer Leinwand, auf der sozialistische Propaganda flimmert.
Eigentlich denke doch jeder gern und mit einem warmen Gefühl an seine Kindheit, meint der Animationskünstler Pi San zu Beginn des Films. Doch was er in seinen Trickfilmen verarbeitet, ist eine enorme psychische Gewalt, die Schülerinnen und Schüler schon ganz früh in der Schule erleben, wenn sie sich den kommunistischen Regeln unterordnen müssen. Die von ihm geschaffene Kunstfigur Kuang Kuang ist rebellisch und erleidet für die Auflehnung gegen ein absurdes System entsprechend drastische körperliche Strafen.
Gerade die kindliche Unschuld, so wird in den Erzählungen der Kunstschaffenden deutlich, erweist sich als Quelle für spätere Scham. Der Schriftsteller Ye Fu erzählt etwa von seiner unbekümmerten Freude, als er als Vierjähriger den Vater mit einem «lustigen» hohen Hut durch die Strasse hat gehen sehen, nicht wissend, dass sein Vater gerade als Landbesitzer öffentlich gedemütigt wird. Gleichzeitig erbte er diese Schuld und musste sich jeweils mit dem Familienstatus «Landbesitzer» in der Schule anmelden.
So unterschiedlich sie sind, so ähnlich sind sich die Schicksale in diesem Land, in dem die Menschen gegeneinander aufgehetzt und «zur Grausamkeit erzogen werden», wie Ye Fu sagt. Schaedler bleibt bei seiner Protagonistin und seinen Protagonisten. Er will nicht die klassischen Künstlerbiografien vermitteln, sondern die konkreten Auswirkungen des totalitären Regimes auf das Individuum. Diese vier Kunstschaffenden haben einen Weg gefunden, Verlust, Wut und Leid zu verarbeiten. Sie sind fähig, dies eindrücklich zu vermitteln, was A Long Way Home so sehenswert macht.